Name des Begriffes: Oktober 1956
Beschreibungen des Begriffes:

Oktober 1956

Politischer Umbruch, der die gesamte polnische Gesellschaft erfasste. Höhepunkt der Ereignisse war der Wechsel in der Führungsspitze der Partei. Stalins Tod und das anschließende vorsichtige politische Tauwetter der Jahre 1954/55 hatten in Polen zu einer Schwächung der stalinistischen Herrschaftsmechanismen geführt. Für Unruhe und Meinungsstreit innerhalb der Partei sorgten insbesondere die Rede des sowjetischen Parteichefs Nikita Chruschtschow über die Verbrechen Stalins im Februar 1956 sowie der Tod des Ersten Sekretärs des ZK der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei, Bolesław Bierut. Die Veröffentlichung von Chruschtschows Geheimrede in Polen, die im April 1956 verkündete Amnestie für politische Gefangene sowie die Verhaftung einiger hochrangiger Vertreter des Ministeriums für Öffentliche Sicherheit führte dazu, dass die allgemeine Angst in der Gesellschaft abnahm. Bis dahin war die Einschüchterung ein wesentliches Instrument der Machtausübung gewesen.

Ab Frühjahr 1956 entzogen sich weite Kreise von Intellektuellen und Jugendgruppen der Kontrolle des Machtapparats und forderten immer vernehmlicher die Demokratisierung des politischen Systems. Die bekannteste Zeitschrift dieser Bewegung war „Po Prostu“. Unter den Arbeitern verstärkte sich die Bereitschaft, ihre ökonomischen Interessen zu verteidigen und Kritik an den Verhältnissen in den Produktionsbetrieben zu üben. Ausdruck hiervon waren der Posener Aufstand vom 28. Juni 1956 und die Bildung von Arbeiterräten in einigen Industriebetrieben. Innerhalb der Gesellschaft artikulierten sich immer mutiger auch antikommunistische und antisowjetische Losungen, was ebenfalls besonders deutlich während des Posener Aufstands zum Ausdruck kam.

Innerhalb der Parteiführung entstanden zunehmend Meinungsverschiedenheiten, wie man auf diese Herausforderungen reagieren sollte. Zum Mann der Stunde wurde Władysław Gomułka, ehemals Vorsitzender der Polnischen Arbeiterpartei (PPR), 1948 wegen „rechtsnationalistischen Abweichlertums“ angeklagt und 1950–54 inhaftiert. Die Vorbereitung tief greifender personeller und programmatischer Änderungen, die auf dem VIII. Plenum des Zentralkomitees beschlossen werden sollten, führten zu einer Beunruhigung der Sowjetführung. Unmittelbar vor Beginn des Plenums am 19. Oktober 1956 kam Chruschtschow in Begleitung dreier hochrangiger sowjetischer Vertreter nach Warschau, während sich zeitgleich sowjetische Panzerkolonnen aus den Militärbasen in Niederschlesien und Pommern auf den Weg nach Warschau machten. Die Parteiführung lehnte eine Verschiebung des Plenums und einen Verzicht auf die geplanten Reformen jedoch ab und trat in mehrstündige Verhandlungen mit den Sowjets ein.

Begleitet wurde das Ganze von einer allumfassenden Mobilisierung der Gesellschaft, insbesondere der Arbeiter und Studenten, die sich für eine Demokratisierung und die Wiedererlangung der staatlichen Souveränität Polens einsetzten. In den Morgenstunden des 20. Oktobers erhielten die Panzerkolonnen den Befehl, nicht weiter auf Warschau vorzurücken, und die sowjetischen Repräsentanten kehrten nach Moskau zurück. Auf dem Plenum hielt Władysław Gomułka eine vom Rundfunk übertragene Rede, in der er das stalinistische System verurteilte und die Posener Arbeiterproteste als gerechtfertigt bezeichnete. In den Beziehungen zur Sowjetunion gelte es, die Prinzipien der Souveränität und Gleichberechtigung wiederherzustellen. Zudem gestand er den Bauern das Recht zu, ihren eigenen Boden zu bewirtschaften, landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften sollten dem Prinzip der Freiwilligkeit folgen. Gomułka wurde zum Ersten Sekretär der Partei gewählt. Aus der Parteiführung entfernt wurde dagegen der sowjetische Marschall Konstantin Rokossowski, der Sinnbild für die fehlende Souveränität Polens gewesen war.

Aus Kundgebungen zur Unterstützung der Demokratisierung und der Wahl Gomułkas entwickelten sich in einigen Städten antikommunistische, antisowjetische Demonstrationen, auf denen die Unabhängigkeit von der UdSSR gefordert wurde. Gomułka versuchte, diesen nationalen Forderungen durch verschiedene Maßnahmen zu begegnen. Dazu gehörten die Absetzung Rokossowskis (der in die UdSSR zurückkehrte), die Freilassung des polnischen Primas Stefan Kardinal Wyszyński (der seit 1953 interniert war), die Freilassung nahezu aller politischen Gefangenen sowie die Hinnahme des Auseinanderbrechens der Produktionsgenossenschaften auf dem Land. Die Hoffnungen auf die Wiedererlangung der staatlichen Unabhängigkeit und weiterer demokratischer Veränderungen wurden durch die militärische Niederschlagung der Ungarischen Revolution von 1956 und den Einmarsch sowjetischer Truppen in Ungarn am 4. November 1956 zunichte gemacht. Die Solidarität mit den Ungarn, die sich unter anderem in Blutspenden für die Opfer der Kämpfe ausdrückte, blieb für die Polen im Herbst 1956 ein prägendes Erlebnis.

Schon 1957 leitete die Parteiführung das Ende der Reformbemühungen ein. Die nach dem Oktober 1956 gegründeten Jugendorganisationen, die sich für eine weitere Demokratisierung eingesetzt hatten, wurden wieder abgeschafft. Die Weiterentwicklung der Arbeiterräte wurde gestoppt, Projekte zu tief greifenden Wirtschaftsreformen auf Eis gelegt und die Kontrolle der Partei über die Presse wieder hergestellt. Als symbolisches Ereignis, das das Ende der Oktober-Euphorie markierte, gilt die Schließung der Wochenzeitschrift „Po Prostu“ im Oktober 1957.

Direkte Folgen des Oktobers 1956 waren jedoch der Verzicht des Regimes auf Massenrepressionen, die Erweiterung der bürgerlichen Freiheiten im privaten und beruflichen Leben, ein größerer Freiraum für Kulturschaffende als in anderen kommunistischen Ländern, die Wiedererlangung der Unabhängigkeit der katholischen Kirche vom Staat sowie der Verzicht auf die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft. Es kam zu einer gewissen Verringerung der Abhängigkeit Polens von der UdSSR, mit der man auch eine Übereinkunft über die Fortsetzung der Repatriierung von Polen traf, die in der UdSSR lebten.

In den Folgejahren lenkte die Staatsführung die Erinnerung nicht gern auf den Zeitraum nach dem Oktober 1956, der als Zeit der Krise und der Systemschwäche angesehen wurde. Für die systemkritischen Kräfte stand das Jahr 1956 dagegen für gesellschaftliche Aktivität und die Hoffnung auf tief gehende Reformen und war Inspirationsquelle insbesondere für den linksorientierten Teil der Opposition.

Andrzej Friszke

Synonyme: Oktobers 1956
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