Künstlerin und Schriftstellerin. In der DDR aus politischen Gründen in Haft, Leiterin einer privaten Galerie in Erfurt, unangepasste Fotografin, Schriftstellerin, Performance- und Videokünstlerin, Mitgründerin von „Frauen für Veränderung“, Mitinitiatorin der ersten Besetzung einer Stasi-Bezirksverwaltung im Dezember 1989.

Während ihrer politischen Haft unter Kriminellen und Mörderinnen im Frauenzuchthaus Hoheneck/Stollberg beschloss Gabriele Stötzer 1977, Schriftstellerin zu werden. In den 80er Jahren beeinflusste sie als zentrale Gestalt der Erfurter Subkultur mit ihrer radikalen, schonungslosen Offenheit die unabhängige Kunstszene der späten DDR. Am 4. Dezember 1989 gehörte die Künstlerin in Erfurt zu jenen vier Frauen, die die erste Besetzung einer Bezirksverwaltung der Staatssicherheit organisierten und damit republikweit das Signal zur Sicherung der Stasi-Akten gaben. Eine politische Karriere lockte sie danach nicht. Wichtig war und ist ihr ihre künstlerische Unabhängigkeit – auch in ihrem Engagement gegen Entmündigung und Reglementierung heute. „Indem ich Kunst mache und schreibe, erreiche ich unerwartete Ebenen, in denen ich glücklich bin“, sagt Gabriele Stötzer über sich. Ein banaler Satz, stünde hinter ihm nicht eine außerordentliche Biografie.

Am 14. April 1953 wurde Gabriele Stötzer im Dorf Emleben unweit von Gotha geboren. Nach ihrer Lehre arbeitete sie als medizin-technische Assistentin in Erfurt und machte ihr Abitur im Abendstudium. 1973 heiratete sie und trug nach ihrer Scheidung 1979 bis 1991 den Namen Kachold. 1973 begann sie ein Studium für Deutsch und Kunsterziehung an der Pädagogischen Hochschule Erfurt. Nach ihrer Solidarisierung mit dem exmatrikulierten Kommilitonen Wilfried Linke – er hatte sich für einen weniger dogmatischen Marxismus-Leninismus-Unterricht eingesetzt – erfolgte 1976 auch ihre Exmatrikulation.

Im November 1976 wurde sie nach ihrer Unterschrift gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann als „Rädelsführerin“ verhaftet. Ihre Weigerung zu „tätiger Reue“ und Rücknahme der Unterschrift brachte ihr fünf Monate Untersuchungshaft ein. In den Verhören sprach sie offen aus, was sie dachte, erfüllte damit den DDR-Tatbestand der „Staatsverleumdung“ und wurde zu einem Jahr Strafvollzug ohne Bewährung verurteilt.

Es sollte 25 Jahre dauern, ehe die heute in Erfurt und Utrecht lebende Schriftstellerin im Schutz der dritten Person ihre Erfahrungen über das ehemalige sächsische Staatsgefängnis, dem wegen seiner Härte in der DDR berüchtigten Frauenzuchthaus Burg Hoheneck, niederschrieb.

Weil sie im Gegensatz zu anderen politischen Häftlingen die DDR nicht verlassen wollte, fand sie sich in der Gefängnishierarchie weit unten – in einer Zelle zusammen mit Kriminellen. 22 Frauen in einem „Verwahrraum“, auf engstem Raum. Bei guter Führung gab es die Erlaubnis, wöchentlich einen zensierten Brief zu schreiben, monatlich einen „Sprecher“, getrennt durch eine Glasscheibe, zu haben, jeden Monat ein kleines Paket zu bekommen. Bei erfüllter Arbeitsnorm, das waren im Dreischichtbetrieb täglich 650 genähte Strumpfhosen, durfte sie für 40 Mark im Monat Lebensmittel, Toilettenartikel und Bohnenkaffeemarken eintauschen.

Gabriele Stötzers Buch „Die bröckelnde Festung“ (2002) ist ein faktenreicher Bericht über den drastischen Alltag in dieser „Mörderburg“ und zugleich eine sehr intime Schilderung innerer Selbstfindung. Es beschreibt hautnah den subtilen Druck zur Normerfüllung, die Hierarchie in den verschlossenen, schlecht geheizten Zellen, die Zweckbündnisse der Frauen, ihre Liebesverhältnisse, Eifersucht, Kämpfe und Versöhnungen, ihre Träume von Amnestie – oder davon, wenigstens einmal in die Stadt zum Konditor gehen zu können, sowie die Unmöglichkeit, der täglichen Akkordarbeit zu entgehen, außer durch Einweisungen in die Krankenstation oder Suizid.

Aus dem Gefängnis entlassen, wehrte sich Gabriele Stötzer-Kachold gegen die verordnete Ohnmacht, indem sie ihre Erlebnisse, Ängste, Hoffnungen notierte. Ihre Haftberichte kursierten als Schreibmaschinenabschriften unter der Hand. Unangemeldet besuchte sie Christa Wolf. Über die Begegnung ist in deren Erzählung „Was bleibt“ nachzulesen: „Wer schickte die? Das Mädchen kramte in seiner Umhängetasche und zog endlich ein paar Blätter daraus hervor, ein Manuskript, das war der Anlass für ihren Besuch. Ich las die Blätter sofort. […] Ich sagte, was sie da geschrieben habe, sei gut. Es stimme. Jeder Satz sei wahr. Sie solle es niemanden zeigen. Diese paar Seiten könnten sie wieder ins Gefängnis bringen.“

Nach zweijähriger Arbeit „zur Bewährung“ in einer Schuhfabrik übernahm Gabriele Stötzer-Kachold 1980 die private „Galerie im Flur“ in Erfurt, die alternative Künstler erst aus Thüringen, später auch aus Dresden, Leipzig und Berlin ausstellte. Spitzelberichte, unter anderem von Sascha Anderson, führten 1981 zur Schließung der Galerie. „Aber“, sagt Gabriele Stötzer, „letztlich gelang es ihnen nicht, die kreative Potenz zu brechen.“ Von 1979 bis 1986 verfolgte das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) die Künstlerin im Operativen Vorgang „Toxin“ mit dem Ziel der erneuten Verhaftung, danach bis 1989 in der Operativen Personenkontrolle „Medium“. Stötzer beeinflusste maßgeblich die Erfurter und auch die unabhängige DDR-Kunstszene, durchbrach radikal sozialistisch-kleinbürgerlich-dogmatische Tabus. Sie fotografierte, drehte erfolgreich Super-8-Filme – seit 1990 Videoprojekte – über feminine Selbstfindung. Dokumentiert sind sie in „Gegenbilder. Filmische Subversion in der DDR 1976–1989“ von 1996. Gegen drohende gesellschaftliche Isolierung erfand sie immer neue Handlungsräume und Aktionen. Seit 1983 trat sie mit einer von ihr gegründeten Frauen-Performance-Gruppe auf und veröffentlichte in den Untergrundzeitschriften „und“ in Dresden sowie „mikado“ und „ariadne“ in Berlin.

Stötzer lebte bewusst den Widerspruch zur vormundschaftlichen Gesellschaftsordnung, probte „außerstaatliche Lebensqualität“, machte die Kunst zum Medium für ihre Artikulation.

Ihr erster unter dem Namen Kachold von Gerhard Wolf herausgegebener Band „zügel los“ (1989) mit experimenteller Prosa und Prosagedichten verkörperte den Ausbruch aus der allgemeinen Agonie. Tagebuchartige Reflexionen, bisweilen im Rap-Rhythmus, vielfach drastisch exhibitionistisch und illustriert mit provozierenden Zeichnungen, setzten in „grenzen los fremd gehen“ (1992) den Aufbruch aus gesellschaftlicher Verkrustung aus unmittelbarer subjektiver Nähe fort.

Ihre Sprache in dieser Zeit war hart und direkt, Beschönigungen lehnte sie ab: „Erst habe ich gedacht, manches sei unaussprechbar. Dem habe ich widersprochen. Wenn man schon Knast sagen kann und nicht Strafvollzug, hängt das sicher mit der Härte zusammen, die existiert hat. Wobei die Mehrheit sagt: Mir ist nichts passiert. Ich habe die Härte nicht gespürt.“ Tatsächlich gibt es nur wenige Schriftstellerinnen aus der ehemaligen DDR, die ihre Erfahrungen so kompromisslos und authentisch in die Literatur einbringen wie Gabriele Stötzer.

Udo Scheer
Letzte Aktualisierung: 08/16