Russland

Alexander Jessenin-Wolpin

Alexander Jessenin-Wolpin, 1924–2016

Aleksandr Sergeevič Esenin-Vol’pin

Александр Сергеевич Есенин-Вольпин

Mathematiker, Philosoph und Dichter. Mitbegründer der Menschenrechtsbewegung in der UdSSR.

Alexander Jessenin-Wolpin wurde 1924 in Leningrad, dem heutigen Sankt Petersburg als Sohn des Dichters Sergei Jessenin und der Dichterin und Übersetzerin Nadeschda Wolpin geboren.

Seit seiner Kindheit begeisterte er sich für Mathematik und Poesie. 1933 zog er zusammen mit seiner Mutter nach Moskau. 1941 begann er ein Studium an der Fakultät für Mechanik und Mathematik der Moskauer Universität, das er 1946 abschloss. Während des Zweiten Weltkrieges wurde er nicht zum Militär eingezogen, weil er für psychisch krank erklärt worden war. Diese Stigmatisierung begleitete ihn während seines ganzen Lebens in der Sowjetunion.

Schon während der Studienjahre offenbarte sich sein dichterisches Talent. Jessenin-Wolpin las seine Gedichte häufig in der Öffentlichkeit, woran sich der Mathematiker Wladimir Uspenski wie folgt erinnerte: „Alik las seine Gedichte. […] Ein junger, schöner Mensch; fein gelockte Haare und eine melodische Stimme; Sohn des halb verbotenen Jessenins. Die Gedichte waren absolut außergewöhnlich. Niemand hat damals so geschrieben.“. Nach seiner Promotion am Mathematischen Forschungsinstitut der Moskauer Universität trat Jessenin-Wolpin eine Arbeitsstelle im ukrainischen Czernowitz an. Dort wurde er am 24. Juli 1949 von den Sicherheitsorganen verhaftet, weil er im Kreis enger Freunde eigene Gedichte vorgelesen hatte.

Jessenin-Wolpin wurde nach Moskau gebracht, am Serbski-Institut für unzurechnungsfähig erklärt und von einer Sonderkommission der Staatssicherheit am 1. Oktober 1949 zur Zwangsbehandlung in ein psychiatrisches Gefängniskrankenhaus in Leningrad eingewiesen. Dessen ungeachtet verurteilte ihn die Sonderkommission am 9. September 1950 in einem neuen Beschluss als vermeintlich „sozial gefährliches Element“ noch zu fünf Jahren Verbannung im Gebiet Karaganda in Kasachstan. Dort freundete sich Jessenin-Wolpin mit den ebenfalls in Verbannung lebenden jungen Dichtern Naum Korschawin und Juri Aichenwald an, die er in Moskau noch vor seiner Verhaftung kennen gelernt hatte.

Im April 1953 kam Jessenin-Wolpin im Rahmen einer Amnestie frei und kehrte nach Moskau zurück. Unter Mathematikern wurde er nun überall als herausragender Spezialist auf dem Gebiet der mathematischen Logik und als Begründer der neuen philosophisch-mathematischen Fachrichtung des Ultraintuitionismus (einer auf die Konstruktion von mathematischen Objekten ausgerichtete Form der philosophischen Mathematik) bekannt. Er schrieb weiterhin Gedichte und knüpfte öffentlich Kontakte zu Ausländern. Im Juli 1959 zeichnete er auf Bitten eines ausländischen Kollegen seine philosophischen Grundüberzeugungen auf. Kurz danach wurde er erneut zwangsweise in ein psychiatrisches Krankenhaus eingewiesen, wo er etwa zwei Jahre bleiben musste. Während dieser Zeit konnte sein Essay „Freies philosophisches Traktat“ (Svobodnyj filosofskij traktat) seinem Wunsch gemäß in den Westen gebracht und dort 1961 zusammen mit dem Gedichtband „Frühlingsblatt“ (Vesennij list) veröffentlicht werden. Nach Boris Pasternak war dies das zweite Mal, dass es ein Bürger der UdSSR gewagt hatte, ohne Erlaubnis der Behörden im Ausland unter eigenem Namen zu veröffentlichen.

Auf Parteiveranstaltungen wurde Jessenin-Wolpin als „ideologischer Abweichler“ gebrandmarkt, hohe Parteifunktionäre bezeichneten ihn als „Schädling“. Seine im Samisdat zirkulierenden Gedichte waren der Form nach traditionell, inhaltlich jedoch eine Herausforderung der herrschenden Ideologie: „Mitbürger, ach, Kühe und Böcke! Was haben die Bolschewiken nur mit euch gemacht …“

Nachdem er 1961 aus seiner Arbeit entlassen worden war, wurde Jessenin-Wolpin freier Mitarbeiter am Allunionsinstitut für wissenschaftliche und technische Informationen und arbeitete dort bis zu seiner Ausreise aus der UdSSR. Er schrieb Rezensionen, übersetzte ausländische mathematische Literatur und schrieb Einträge für die fünfbändige Philosophische Enzyklopädie (Filosofskaja Ėnciklopedija).

Den Kern der mathematischen und philosophischen Ideen Jessenin-Wolpins bildete sein extremer Skeptizismus – die Ablehnung jeglicher auf Glauben beruhender abstrakter Begriffe wie Gott und Unendlichkeit. Daraus leitete er die Notwendigkeit der strengen Einhaltung formal-logischer Kriterien ab. Diese philosophische Perspektive begann Jessenin-Wolpin Anfang der 60er Jahre auch auf den Bereich des Rechts anzuwenden. Er entwickelte und verbreitete Grundprinzipien, die für das Wirken der Menschenrechtsaktivisten grundlegend wurden: die öffentliche Transparenz ihres Engagements und die Bereitschaft, die Einhaltung des Rechts einzufordern. Wladimir Bukowski schrieb hierzu in seinen Erinnerungen: „Alik war der erste Mensch in unserer Umgebung, der ernsthaft über sowjetisches Recht sprach.“

Jessenin-Wolpin propagierte die Idee, sich auf das Recht zu beziehen, nicht nur unter seinen Bekannten, sondern unternahm auch praktische Schritte, um im Rahmen eines legalistischen Ansatzes zwischenmenschliche Konflikte zu lösen. 1963 reichte er Klage gegen einen Journalisten ein, der in einem Artikel beleidigende Aussagen von ZK-Sekretär Leonid Ilitschow wiederholt hatte. Dieser Schritt war zur damaligen Zeit derart ungewöhnlich, dass das Gericht die Klage zwar annahm, dann aber nicht zugunsten des Klägers entschied.

Nach der Verhaftung der Schriftsteller Juli Daniel und Andrei Sinjawski im September 1965 gab Jessenin-Wolpin den Anstoß zu einem Bürgerappell (Graždanskoe obraščenie) in Flugblattform, den er gemeinsam mit Jelena Strojewa und Waleri Nikoski verfasste und auf dem sie für den 5. Dezember 1965 zur Glasnost-Kundgebung auf dem Moskauer Puschkin-Platz aufriefen. Bei der Vorbereitung der Kundgebung halfen ihm junge Dichter und Mitglieder der unabhängigen Poetengruppe SMOG. Diese Demonstration, an der Jessenin-Wolpin selbst nicht teilnahm, wird als Beginn der sowjetischen Menschenrechtsbewegung angesehen.

Zur Jahreswende 1967/68 gehörte Jessenin-Wolpin zu den Initiatoren einer Petitionskampagne, die den Prozess der Vier begleitete. Er setzte sich konsequent gegen Rechtsverletzungen bei der strafrechtlichen und psychiatrischen Verfolgung Andersdenkender ein und unterzeichnete Dutzende Dokumente zur Verteidigung der Menschenrechte. Der von ihm 1968 verfasste Text „Ratgeber für diejenigen, denen ein Verhör droht“ (Pamjatka dla tech, komu predstojat doprosy) diente Dissidenten als unersetzbare Hilfe, um sich dem sowjetischen Strafrechtssystem mit rechtlichen Mitteln entgegenzustellen. Kernthese des Ratgebers war die Behauptung, dass die Normen des sowjetischen Prozessrechtes vollständig ausreichend seien, um in Übereinstimmung mit dem Gesetz die Beteiligung an der Verfolgung Andersdenkender abzulehnen, ohne sich in Lügen oder Leugnung von Tatsachen flüchten zu müssen.

Der nächste Zwangsaufenthalt Jessenin-Wolpins in einem psychiatrischen Krankenhaus im Februar 1968 löste eine Protestkampagne von sowjetischen und ausländischen Mathematikern aus.

Im Februar 1970 wurde Jessenin-Wolpin Experte des Komitees für Menschenrechte in der UdSSR und nahm eineinhalb Jahre lang engagiert an dessen Aktivitäten teil, indem er mehrere Berichte über das Recht auf anwaltliche Verteidigung, über die Rechte von psychisch Kranken und über internationale Menschenrechtsabkommen verfasste.

Im März 1972 gaben die Behörden Jessenin-Wolpin zu verstehen, dass seine Ausreise ins Ausland sehr erwünscht sei. Im Mai desselben Jahres emigrierte er in die USA. Jessenin-Wolpin arbeitete an den Universitäten in Buffalo und später in Boston. Er beschäftigte sich weiterhin mit Mathematik und dem Schutz der Menschenrechte. Nach 1989 besuchte er mehrfach die Sowjetunion bzw. Russland.

Alexander Jessenin-Wolpin starb 2016 in Boston.

Sergei Lukaschewski
Aus dem Polnischen von Tim Bohse
Letzte Aktualisierung: 03/16