Grigori Pomeranz

Grigori Pomeranz, 1918–2013

Grigorij Solomonovič Pomeranc

Григoрий Соломонович Померанц

Philosoph, Kulturwissenschaftler und Publizist. Autor philosophischer Werke, die im Samisdat verbreitetet wurden und in den 60er und 70er Jahren einen entscheidenden Einfluss auf liberale Intellektuelle hatten.

Grigori Pomeranz wurde 1918 in Wilna (Vilnius) im heutigen Litauen geboren und lebte seit seinem siebten Lebensjahr in Moskau. Er absolvierte ein Studium an der Fakultät für russische Literatur am Moskauer Institut für Philosophie, Literatur und Geschichte, das er 1940 abschloss. Während des Studiums beschäftigte er sich mit dem Werk von Fjodor Dostojewski, so auch in seiner Abschlussarbeit, die von seinen Hochschullehrern allerdings als antimarxistisch eingeschätzt wurde. Im Zweiten Weltkrieg ging Pomeranz 1941 freiwillig an die Front, wo er verwundet wurde. Seine Verhaftung erfolgte 1949. Die bereits fertige Dissertation über Dostojewski wurde im Verlauf des Untersuchungsverfahrens konfisziert und als „Dokument ohne Relevanz für das Gerichtsverfahren“ vernichtet. Auf Grundlage von Artikel 58, Paragraf 10 Strafgesetzbuch der RSFSR wurde er zu fünf Jahren Haft verurteilt. 1950–53 war er im „KargopolLag“, einem Gulag-Lager im Gebiet Archangelsk, inhaftiert. Im Zuge einer Amnestie wurde er entlassen und 1958 rehabilitiert.

1953–56 unterrichtete Pomeranz als Lehrer an einer Dorfschule im Donezbecken in der Ukraine. Nach seiner Rückkehr nach Moskau arbeitete er als Bibliograf und wurde Mitarbeiter an der Bibliothek für Gesellschaftswissenschaften. 1959 starb seine erste Frau, die Romanistin Irina Murawjowa. Für lange Zeit prägte die Erinnerung an sie Pomeranz‘ philosophische und literarische Arbeit.

Zwischen 1953 und 1959 entstanden unter dem Titel „Durchlebte Abstraktionen“ (Perežitye abstrakcii) seine ersten Essays, die in der traditionellen Form des philosophischen Dialogs verfasst, aber in der Realität des stalinistischen Lagers angesiedelt waren.

Die Ungarische Revolution 1956 und die öffentliche Hetzjagd auf den sowjetischen Schriftsteller Boris Pasternak ließen Pomeranz über direkten politischen Widerstand gegen das Regime nachdenken. Zwischen 1959 und 1960 begann er, ein Seminar für Philosophie, Geschichte und Politökonomie im privaten Rahmen abzuhalten, das halb konspirativ und ohne feste organisatorische Formen stattfand. Unter den Besuchern befanden sich viele aktive Teilnehmer der Dichterlesungen auf dem Majakowski-Platz, darunter auch Wladimir Ossipow. Diese Erfahrungen seines philosophischen und politischen Engagements, das im politischen Untergrund verortet war, gefielen Pomeranz jedoch nicht.

Die 1960 geschlossene Bekanntschaft mit Alexander Ginsburg, Natalja Gorbanewskaja und Juri Galanskow eröffnete bald eine andere Perspektive auf ein Wirken ohne Rücksicht auf die Zensur, das die „uneingeschränkte Öffentlichkeit und die Freiheit von Angst“ in den Mittelpunkt stellte. In dieser neuen Atmosphäre entstand nicht nur die Moskauer Samisdatzeitschrift „Sintaksis“ (Syntax), zu deren Redaktion Pomeranz gehörte, sondern auch ein freier und kreativer Geist, der sowohl zwischen seinen neuen Bekannten als auch zwischen den Künstlern der Lianosowo-Gruppe herrschte, mit denen er zu dieser Zeit Kontakt hielt. Einen großen Einfluss auf die Entwicklung seines Denkens hatte auch die Begegnung mit der Dichterin Sinaida Mirkina im Jahr 1961, die er dann heiratete.

Ab 1962 veröffentlichte Pomeranz in wissenschaftlichen Zeitschriften Artikel zu Themen der Orientalistik und der vergleichenden Kulturwissenschaft, die sein Interesse am geistigen Leben Indiens und Chinas widerspiegelten und hielt Referate und Vorlesungen an unterschiedlichen wissenschaftlichen Einrichtungen und Hochschulen. Gleichzeitig schrieb er Essays über kulturwissenschaftlich-historische, gesellschaftliche und politische Themen, die weite Verbreitung im Samisdat fanden. Vor allem die Texte „Billiarde“ (Kvadrilion) und „Das moralische Antlitz der historischen Persönlichkeit“ (Nravstvennyj oblik istoričeskoj ličnosti), die 1966 in dem unabhängigen Almanach „Feniks“ (Phönix) veröffentlicht wurden, lösten ein großes Echo aus. 1967 und 1968 wurden beide Essays im Ausland in der Exilzeitschrift „Grani“ (Nr. 64 und 67) veröffentlicht.

Pomeranz hielt Kontakt zu Dissidenten verschiedener Strömungen und beteiligte sich an privat abgehaltenen wissenschaftlichen Seminaren. 1970 nahm er an einer Vorlesung teil, die in der Wohnung von Walentin Turtschin stattfand. Andrei Sacharow schrieb später über dieses Seminar: „Das Interessanteste und Tiefste waren die Vorträge von Grigori Pomeranz. Ich traf ihn damals das erste Mal und war tief von seiner Gelehrtheit, der Breite seines Wissens und seinem akademischen Format berührt. […] Die zentralen Konzepte von Pomeranz waren […] der außerordentliche Wert einer Kultur, die durch gemeinsame Anstrengungen aller Völker des Ostens und Westens im Verlauf eines Jahrtausends geschaffen worden ist; die Notwendigkeit der Toleranz, des Kompromisses und des weiten Horizonts; das Elend und die Ärmlichkeit der Diktatur und des Totalitarismus und ihre historische Sinnlosigkeit sowie die Ärmlichkeit und Nutzlosigkeit eines eng verstandenen provinziellen Nationalismus.“

Dmitri Jermolcew
Aus dem Polnischen von Tim Bohse
Letzte Aktualisierung: 02/16