Jan Patočka wurde 1907 in Turnau (Turnov) geboren. Sein Vater war Gymnasiallehrer für klassische Sprachen, seine Mutter Opernsängerin. Ab 1925 studierte er Philosophie, Romanistik und Slawistik an der Karls-Universität in Prag. 1928–29 studierte er im Ausland, unter anderem an der Pariser Sorbonne, wo er das erste Mal Edmund Husserl begegnete. 1931 erhielt er den Doktorgrad in der Philosophie. Ein Jahr später ging er zum Studium nach Berlin und danach nach Freiburg, wo er Vorlesungen von Martin Heidegger und Edmund Husserl besuchte. Nach seiner Rückkehr 1934 in die Tschechoslowakei unterrichtete er zehn Jahre an einem Prager Gymnasium, war Sekretär des Prager Philosophiekreises und Redakteur der wichtigsten philosophischen Zeitschrift „Tschechisches Denken“ (Česká mysl). 1936 habilitierte er sich mit der Arbeit „Die natürliche Welt als philosophisches Problem“ (Přirozený svět jako filosofický problém), mit der er zum Kreis der bedeutendsten europäischen Philosophen jener Zeit aufschloss. Während der deutschen Besatzung arbeitete er als Gymnasiallehrer, wurde im Herbst 1944 jedoch zur Zwangsarbeit im Tunnelbau verpflichtet.
Nach der Befreiung von den Deutschen unterrichtete Patočka Geschichte der Philosophie an der Karls-Universität Prag. Als er von den Kommunisten bei einer politischen Überprüfung negativ eingestuft wurde, musste er die Universität verlassen. Obwohl er weder zu den politischen Ereignissen noch gegen das Regime öffentlich Stellung bezogen hatte, behandelten ihn die Machthaber als einen potenziellen Feind. Dass er den Eintritt in die Kommunistische Partei (KPČ) verweigerte, obwohl er damit seine Karriere hätte retten können, schadete ihm zusätzlich. In den 50er Jahren handelte er nach dem Prinzip, sich nicht in aussichtslose Konfrontationen mit dem kommunistischen System zu begeben, blieb jedoch trotz allem seinen Grundsätzen treu.
Nachdem er die Universität verlassen musste, wechselte Patočka an das Tomáš-Garrigue-Masaryk-Institut, wo er sich als wissenschaftlicher Mitarbeiter mit dem Fall Leopold Hilsners befasste. Dieser war 1899 angeklagt worden, einen jüdischen Ritualmord an einer christlichen Mitbürgerin begangen zu haben und dafür ohne ausreichende Beweise verurteilt worden. Nebenbei organisierte Patočka für Kollegen und ehemalige Studenten private Seminare. Nach der Auflösung des Institutes 1954 wechselte er zum pädagogischen Institut der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften. Hier forschte er zum philosophischen und theologischen Schaffen von Jan Amos Comenius und leistete so einen Beitrag zur Wiederentdeckung dessen Werke.
Mit dem politischen Tauwetter 1958 konnte er zur Verlagsabteilung des philosophischen Instituts der Akademie der Wissenschaften wechseln. Hier befasste er sich mit der Vorbereitung wissenschaftlicher Publikationen und arbeitete im Projekt „Philosophische Bibliothek“ mit. In der zweiten Hälfte der 60er Jahre hielt er gelegentlich Vorträge an belgischen und deutschen Universitäten. Nachdem er 1968 vollständig rehabilitiert wurde, konnte er wieder an der Karls-Universität lehren, wo er zum ordentlichen Professor berufen wurde. Gleichzeitig wurde ihm die Aufgabe der Neugründung des Masaryk-Instituts übertragen.
Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings und dem Einmarsch von Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei entschied sich Patočka gegen die Emigration, da er sich kein Leben außerhalb der Tschechoslowakei vorstellen konnte. Als die Aachener Universität ihm 1971 die Ehrendoktorwürde verlieh, erlaubte ihm die Regierung nicht, diese anzunehmen. Er erhielt den Doktortitel dann aber 1975 in der Botschaft der Bundesrepublik in Prag. 1972 wurde er zum zweiten Mal in seinem Leben vom kommunistischen Regime bei einer politischen Überprüfung als verdächtig eingestuft und anschließend gezwungen, sich pensionieren zu lassen. Seine Bücher wurden aus den Buchhandlungen entfernt. 1973 gelang es ihm zum letzten Mal, zum Internationalen Philosophen-Kongress ins bulgarische Warna zu fahren, wo jedoch einer der sowjetischen Teilnehmer verhinderte, dass er sein Referat zu Ende halten konnte. Die tschechoslowakische Regierung erhoffte sich von seinem erzwungenen Ruhestand, ihm die Motivation für weitere wissenschaftliche und pädagogische Arbeiten zu nehmen. Es kam allerdings anders. Junge Menschen, ehemalige Studenten und Bekannte suchten den Kontakt zu ihm. Patočka gab weiterhin private Philosophieseminare in seiner Prager Wohnung. Seine Bücher und Vorträge wurden im Samisdat sowie in ausländischen Zeitschriften und Sammelbänden publiziert.
Von entscheidender Bedeutung für die tschechoslowakische Oppositionsbewegung war seine 1975 im Untergrundverlag Edice Petlice (Türriegel) veröffentlichte Arbeit „Ketzerische Essays zur Philosophie der Geschichte“ (Kacířské eseje o filosofii dějin), in der er die Notwendigkeit zur „Solidarität mit den Erschrockenen“ betonte und zur Rettung der Seelen, wenn „die Welt der alltäglichen Hoffnungen um uns herum zerfällt“, aufrief. In seinem Essay „Die Kriege des 20. Jahrhunderts und das 20. Jahrhundert als Krieg“ schrieb er:
„Die bestehenden Deutungen des Ersten Weltkriegs stützen sich durchweg auf Ideen des 19. Jahrhunderts. Das aber sind Ideen des Friedens, des Tages und seiner Interessen. Es nimmt daher nicht wunder, dass sie nicht imstande sind, die Grundgestalt des so ganz anders gearteten 20. Jahrhunderts zu erklären, denn dieses Jahrhundert ist eine Epoche der Nacht, des Krieges und des Todes. Nicht dass es nicht notwendig wäre, zu seinem Verständnis auf die vorangehende Zeit zu rekurrieren. Doch aus ihren Ideen, Programmen und Zielen lässt sich nur die Entstehung des furchtbaren Willens erklären, der über Jahre hinweg Millionen von Menschen ins Feuer und noch mehr Menschen in die gigantischen, nicht enden wollenden Vorbereitungen dieses monumentalen Autodafés getrieben hat. Nicht erklären dagegen lässt sich aus ihnen der eigentliche Inhalt dieses Jahrhunderts und seine tiefe Verfallenheit an den Krieg.“ (Zitiert nach der deutschen Ausgabe, Suhrkamp-Verlag, 2010)
In der Tschechoslowakei jener Zeit wurden Patočkas Essays abgeschrieben und einzelne Teile auswendig gelernt. Seine Texte wurden zu den geistigen Stützen der künftigen Bürgerrechtsbewegung Charta 77. Das Jahr 1976 markierte für Patočka eine Scheidelinie, ab der er nicht mehr schweigen und nicht mehr „mit den Lügen leben konnte“. Also entschloss er sich, die „Alltäglichkeit der Faktenmacher und Routiniers zu erschüttern.“ Patočka gehörte zu den ersten von 272 Unterzeichnern, deren Name sich unter der Petition der Charta 77 befand, woraufhin ihm angeboten wurde, zusammen mit Václav Havel und Jiří Hájek einer der Sprecher der Charta 77 zu werden. Er zögerte lange mit der Entscheidung, da er nicht den Optimismus der anderen teilte, dass die kommunistische Regierung diese Bürgerrechtsbewegung tolerieren würde. Die Aufgabe des Charta-Sprechers übernahm er erst, als Václav Černý, den er als besonders geeigneten Kandidaten für dieses Amt ansah, abgelehnt hatte.
Seine Tätigkeit als Charta-Sprecher begann er mit großem Elan. In den ersten Monaten übten seine kurzen, auf Schreibmaschinen vervielfältigten Essays und seine unermüdliche tägliche Arbeit einen entscheidenden Einfluss auf die Gestalt der Charta 77 aus. Seine Schlüsselerklärungen vom Januar und März 1977 erklärten den Kern und die Botschaft der Bewegung; sie hießen: „Was ist die Charta 77 und was ist sie nicht“ (Čím je a čím není Charta 77), „Was können wir von der Charta 77 erwarten“ (Co můžeme očekávat od Charty 77) und „Über die Notwendigkeit, sich gegen das Unrecht zu wehren“ (O nutnosti bránit se proti bezpráví). Patočka legte darin dar, dass sich die Menschen wieder klar darüber geworden seien, dass es Fragen gebe, für die eingestanden werden müsse. Seine Texte wurden zu seinem politischen und moralischen Testament.
Am 2. März 1977 traf er sich mit dem niederländischen Außenminister Max van der Stoel im Prager Hotel Intercontinental, den er über die Aktivitäten der Charta 77 informierte und ihm versicherte, dass die Charta zu keinen ungesetzlichen Maßnahmen greifen werde. Dieses Treffen mit einem westlichen Staatsmann kam den damaligen Machthaber außerordentlich ungelegen. Gleich am nächsten Tag holte die Staatssicherheit den bereits kranken und erschöpften Patočka zum Verhör ab, das fast zehn Stunden dauerte. Patočka musste daraufhin in ein Krankenhaus gebracht werden, wo ihm jedoch weiter zugesetzt wurde. Er starb nach wenigen Tagen am 13. März 1977.
Das drei Tage später stattfindende Begräbnis nutzte die Staatssicherheit, um ihre Allmacht zu demonstrieren. Vor Beginn der Trauerfeier auf dem Friedhof in Prag-Břevnov wurden viele Bürgerrechtler der Charta 77 festgehalten und verhört. Die Staatssicherheit schikanierte auch die ausländischen Gäste. Um die Teilnahme am Begräbnis zu verhindern, wurde der Straßenverkehr umgeleitet. Die Abschiedsreden wurden von einem tief fliegenden Polizeihubschrauber übertönt, auf der benachbarten Rennbahn wurde zudem genau zu diesem Zeitpunkt ein Speedwaytraining gestartet. Trotz alledem kamen über 1.200 Menschen, um sich von Jan Patočka zu verabschieden.