So sehr sich die SED gerade um die Jugend bemühte, so sehr durchzieht gleichermaßen jugendliche Opposition von Beginn an die Geschichte der DDR. Insbesondere in den 50er Jahren reagierte die SED-Justiz, darin zunächst noch von Sowjetischen Militärtribunalen unterstützt, mit terroristischen Strafen auf alle Zeichen jugendlichen Widerstands. Das Schicksal von Achim Beyer und seiner Mitschüler der Oberschule im kleinen sächsischen Städtchen Werdau steht hier beispielhaft für viele ähnliche Zeichen jugendlichen Aufbegehrens und staatlichen Terrors.
Am 3. Oktober 1951 begann in Werdau/Sachsen pünktlich 10 Uhr vor der politischen Strafkammer des Landgerichts Zwickau gegen 19 Mitglieder einer Widerstandsgruppe der Prozess. Die „öffentliche“ Verhandlung fand vor etwa 50 ausgesuchten Funktionären statt; den Eltern der Jugendlichen war die Teilnahme verwehrt worden. Bereits vierzehneinhalb Stunden später (am 4. Oktober um 0:30 Uhr) endete das Verfahren mit der Verkündung von Strafen zwischen zwei und 15 Jahren Zuchthaus. Zu den Verurteilten gehörten 15 Schüler der örtlichen Oberschule, darunter sechs Jugendliche unter 18 Jahren und drei Mädchen. Achim Beyer, 1932 geboren, wurde zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt. Er musste das Urteil auf den Tag genau an seinem 19. Geburtstag anhören. Die Anklageschrift enthielt den Vorwurf: „Sie haben im bewussten und gewollten Zusammenwirken Anfang Oktober 1950 eine Widerstandsgruppe in Werdau/Sachsen gegen die DDR gegründet, Verbindung mit der ‚Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit‘ in West-Berlin aufgenommen und auf Weisung dieser die Herstellung und Verbreitung von Hetzzetteln vorgenommen; darüber hinaus sich bereiterklärt, als Partisanen mit Waffen gegen die DDR und die Sowjetunion für den amerikanischen und wiedererstehenden deutschen Imperialismus im Falle eines Dritten Weltkrieges zu kämpfen.“
Achim Beyer selbst schrieb 1998 zu diesen Vorwürfen: ,,Wir haben Flugblätter selbst entworfen, hergestellt, verteilt und geklebt, insbesondere gegen die Volkskammerwahl 1950, haben gegen das Todesurteil im Fall des Oberschülers Hermann Josef Flade protestiert und zum Widerstand gegen das SED-Regime aufgerufen. […] Wir hielten die Sicherheitsorgane mehrere Monate in Aufregung. In der Stadt wurde heftig diskutiert […]. Wir wurden beobachtet, es gab Verdächtigungen […]. In der Nacht vom 9. zum 20. Mai 1951 wurden während einer Flugblattaktion zwei unserer Freunde verhaftet. Am darauf folgenden Morgen gab es Absprachen und Diskussionen über Fluchtwege und -zeiten; alles dilettantisch, wenig oder nicht vorbereitet.“
Unbestritten hatten die Oberschüler Kontakte zur „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit“ (KgU) aufgenommen, jene von West-Berlin aus operierende antikommunistische Widerstandsorganisation. Doch die Behauptungen über eine Verpflichtung zur bewaffneten „Partisanentätigkeit“ waren eine der SED-üblichen Propagandalügen. Auch war der Wille zum Widerstand auf dem Boden der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) bzw. DDR selbst gewachsen – in Werdau wie in vielen anderen Orten, wo in diesen frühen Jahren junge Menschen den Widerspruch zwischen stalinistischer Realpolitik und den Propagandaphrasen vom „Aufbau einer neuen demokratischen Ordnung“ erlebten.
Zu seinen eigenen und den Motiven seiner Mitstreiter erklärte Achim Beyer 1998: „Nach dem Ende des Krieges und des Nationalsozialismus erfuhren wir von den Verbrechen dieser Diktatur. So war der Sommer 1945 für uns ein befreiender Neuanfang. […] Das Angebot zur Mitarbeit wurde von uns angenommen, als Aufforderung zur politischen Aktivität betrachtet. Zu unserem Demokratieverständnis gehörten: die Gewährung von Meinungsfreiheit, die Ablehnung jeglicher Diktatur […]. Doch bereits kurz nach der Zwangsvereinigung von SPD und KPD im April 1946 und noch vor Gründung der DDR war jegliche politische Opposition weitgehend ausgeschaltet. […] Bei der Lektüre der Flugblätter der Geschwister Scholl (Weiße Rose) aus dem Jahre 1943 wurde uns die Ähnlichkeit – besser Analogie – zwischen dem NS-Regime und dem Stalinismus von 1950 besonders bewusst: ein Austausch der Begriffe NSDAP gegen SED, HJ gegen FDJ, Gestapo gegen Stasi bot sich an und charakterisierte unsere damalige politische Situation.“
Wie ein Leitmotiv findet sich bei dieser frühen Generation von Schülern und Studenten der soeben gegründeten DDR die Beschäftigung mit der Geschichte der Geschwister Scholl als Antrieb zum Widerstand wieder. Die antifaschistische Erziehung trug unbeabsichtigt dazu bei, eine antistalinistische Haltung herauszubilden und den Geschwistern Scholl nachzueifern.
Etwa die Hälfte der verurteilten Werdauer Schüler musste fünfeinhalb Jahre unter sehr harten, unwürdigen Haftbedingungen in verschiedenen Zuchthäusern leiden. Achim Beyer verbrachte die meisten Haftjahre im Zuchthaus Waldheim. In der kurzen Phase des ,,Tauwetters“ nach dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 wurde auch seine Reststrafe auf Bewährung ausgesetzt. Als letzter der Verurteilten kam er am 13. Oktober 1956 frei.
Beyer floh umgehend in die Bundesrepublik, holte hier das Abitur nach und absolvierte ein wirtschaftswissenschaftliches Studium. Der DDR blieb Achim Beyer sein Leben lang „treu“: Nach dem Studium arbeitete er 30 Jahre in einem auf Fragen der Wissenschaftsentwicklung in der DDR spezialisierten Forschungsinstitut in Erlangen (IWG), zu dessen Gründungsmitgliedern er gehörte. Aber auch die DDR behielt ihn in Gestalt der Staatssicherheit bis 1989 im Auge, wie seine Stasi-Akten zeigen.
Die staatliche Förderung seines Instituts wurde zum Jahresende 1992 eingestellt und Achim Beyer in die Arbeitslosigkeit entlassen. So wurde er Opfer der Wiedervereinigung, für die er sich seit seiner Flucht in die Bundesrepublik, unter anderem im „Kuratorium unteilbares Deutschland“, ununterbrochen eingesetzt hatte.
Seit 1997 erinnert im Werdauer Alexander-von-Humboldt-Gymnasium eine Tafel an den Mut, aber auch an das Leid jener Schüler, die 1951 verurteilt worden waren.