Russland

Wladimir Ossipow

Wladimir Ossipow, 1938–2023

Vladimir Nikolaevič Osipov

Владимир Николаевич Осипов

Historiker, Publizist, politischer Aktivist und Teilnehmer an den Dichterlesungen auf dem Majakowski-Platz. Leitfigur der russischen Nationalisten in der Dissidentenbewegung, Gründer und Redakteur des unabhängigen Journals „Veče“.

Wladimir Ossipow wurde 1938 in Slanzy im Leningrader Gebiet geboren. Sein Vater war Offizier und Dozent an der Armeeschule, die Mutter Lehrerin. 1955 wurde Ossipow an der Historischen Fakultät der Moskauer Universität immatrikuliert. Nach der Abrechnung Chruschtschows mit dem Stalinismus in seiner Geheimrede auf dem XX. Parteitag der KPdSU und der Niederschlagung der Ungarischen Revolution 1956 fühlte er sich von der offiziellen Ideologie abgestoßen und begann, sich für den Anarchosyndikalismus zu interessieren. Er fand zu einer Gruppe von Studenten, die sich um seinen Kommilitonen Anatoli Iwanow gebildet hatte. Ab Herbst 1958 wurden in der Gruppe die theoretischen Grundlagen und die Praxis des Kommunismus diskutiert und es entstanden Pläne, eine Zeitschrift herauszugeben. Gleichzeitig nahm Ossipow an einem inoffiziellen Seminar teil, das Grigori Pomeranz bei sich zu Hause abhielt.

Nach der Verhaftung von Anatoli Iwanow im Februar 1959 wegen angeblicher „antisowjetischer Tätigkeit“ trat Ossipow öffentlich zu dessen Verteidigung auf. Daraufhin wurde er aus dem kommunistischen Jugendverband „Komsomol“ und aus der Hochschule ausgeschlossen. 1960 beendete er erfolgreich sein Abendstudium an der Historischen Fakultät des Moskauer Pädagogischen Institutes und arbeitete fortan als Leiter eines Dorfklubhauses und unterrichtete Geschichte an einer Schule.

Ossipow nahm regelmäßig an den Dichterlesungen auf dem Majakowski-Platz teil, wo er mehrfach festgenommen wurde. 1960 stellte er mit dem Buch „Bumerang“ eine der ersten Lyrik-Anthologien des Samisdat von Autoren aus dem Umfeld der Majakowski-Lesungen zusammen und schrieb in dieser Zeit selbst Gedichte.

Im engeren Kreis der Teilnehmer der Dichterlesungen, zu dem Ossipow sich zählte, wurde über die Bildung einer konspirativen Jugendorganisation diskutiert, die gegen den sowjetischen Staat kämpfen sollte. Im Sommer 1961 trafen sich Anhänger dieser Idee im Ismailowoer Park in Moskau. Sie besprachen unter anderem einen geplanten Anschlag auf Parteichef Nikita Chruschtschow, da sie der Meinung waren, dieser führe das Land mit seiner verantwortungslosen Politik in einen Dritten Weltkrieg.

Am 5. Oktober 1961 wurde Ossipow gemeinsam mit Eduard Kusnezow und Anatoli Iwanow vom KGB verhaftet. Sie wurden wegen der „Bildung einer antisowjetischen anarchosyndikalistischen Organisation“ und wegen „antisowjetischer Propaganda“ am Majakowski-Denkmal angeklagt. In den Gerichtsakten wurde auch die Planung eines Terroranschlags erwähnt, jedoch ohne Verweis auf entsprechende Paragrafen des Strafgesetzbuches.

Am 9. Februar 1962 verurteilte das Moskauer Stadtgericht Ossipow nach Paragraf 1 des Artikels 70 Strafgesetzbuch der RSFSR und Artikel 72 Strafgesetzbuch der RSFSR zu sieben Jahren Freiheitsentzug. Er wurde gemeinsam mit Eduard Kusnezow und Ilja Bokstejn verurteilt, der mit der konspirativen Tätigkeit gar nichts zu tun hatte. Anatoli Iwanow wurde dagegen als unzurechnungsfähig erklärt und in eine psychiatrische Klinik eingewiesen.

Die Haft verbüßte Ossipow in den mordwinischen Lagern, wo er orthodoxer Christ und unter dem Einfluss der dort einsitzenden Mitglieder des Allrussischen Sozial-Christlichen Verbandes zur Befreiung des Volkes (Vserossijskij social-christianskij sojuz osvoboždenija naroda; WSChSON) eine russisch-nationale Weltsicht entwickelte.

Nach der Rückkehr in die Freiheit im Oktober 1968 ließ sich Ossipow in Alexandrow im Wladimirer Gebiet nieder und war als Lagerarbeiter und Feuerwehrmann tätig. Im Januar 1971 gründete er mit „Veče“ (Volksversammlung) die erste zwischen 1971 und 1974 regelmäßig erscheinende unabhängige nationalpatriotische Zeitschrift, von der neun Ausgaben unter seiner Redaktion erschienen. Die Zeitschrift wurde öffentlich herausgegeben und die Behörden von ihrer Gründung informiert. Auf dem Deckblatt waren Name und Adresse des Redakteurs offen angegeben.

Ossipow publizierte unter eigenem Namen auch in den Exil-Zeitschriften „Vestnik russkogo christianskogo dviženija“ (Bote der Russischen Christlichen Bewegung), „Posev“ und „Grani“. Im Ausland erschienen unter anderem seine Erinnerungen an die Dichterlesungen auf dem Majakowski-Platz in Moskau. Außerdem wurde er in den internationalen P.E.N.-Club aufgenommen.

Ossipow unterhielt relativ enge Kontakte zu liberalen und demokratischen Dissidenten sowie Menschenrechtlern wie zum Beispiel zu Pjotr Jakir, der die erste Ausgabe von „Veče“ ins Ausland schmuggelte. Im liberalen dissidentischen Milieu hatte Ossipow damals den Ruf eines gemäßigten Nationalisten, der in seinen Publikationen chauvinistische und antisemitische Töne vermied. Ossipow engagierte sich aber auch für die Menschenrechte. Seine Unterschrift fand sich Anfang der siebziger Jahre unter vielen Protestbriefen.

Er wurde regelmäßig verhaftet, seine Wohnung durchsucht und seine gesamten Unterlagen konfisziert. Anfang 1974 kam es innerhalb der Zeitschrift „Veče“ zur Spaltung. Der Leitartikel der letzten und zehnten Ausgabe, die von Iwan Owtschinnikow herausgegeben wurde, der kurze Zeit später die Einstellung der Zeitschrift bekannt gab, enthielt schwerwiegende politische und persönliche Anschuldigungen gegen Ossipow. Dieser gab daraufhin die Redaktion auf und gründete mit „Zemlja“ (Erde) eine ähnliche Zeitschrift mit gleichem Profil. Er konnte jedoch nur zwei Nummern herausgeben, bevor er am 28. November 1974 verhaftet wurde.

Das Gebietsgericht Wladimir verurteilte Ossipow am 26. September 1975 nach Paragraf 2 des Artikels 70 Strafgesetzbuch der RSFSR zu acht Jahren Lagerhaft. Ihm wurde vorgeworfen, „eine antisowjetische Zeitschrift herausgegeben und verleumderische Artikel und Briefe verfasst“ zu haben. Ossipow bekannte sich nicht schuldig und saß seine Haft erneut in den mordwinischen Lagern ab, wo er eine der zentralen Persönlichkeiten des Widerstandes im Lager war. Im Januar 1977 verfasste er mit Parujr Hajrikjan und Wjatscheslaw Tschornowil einen Entwurf für die Anerkennung ihres „Status eines politischen Häftlings“

Wieder in Freiheit ließ sich Ossipow im November 1982 in Tarussa im Gebiet Kaluga nieder und arbeitete in der Wirtschaft und im Handel. Bis 1985 befand er sich unter behördlicher Aufsicht.

1988 nahm Ossipow sein gesellschaftliches Wirken wieder auf: Er gründete eine christlich-patriotische Gruppe und leitete diese. Aus dieser Gruppe entstand zu Beginn der 90er Jahre eine monarchistische Gruppierung, die 1990 „Christliche Wiedergeburt“ (Christianskoe Vozroždenie) hieß, mehrmals ihren Namen wechselte und 1998 als Partei registriert wurde. 1989/90 leitete Ossipow die Verlagsabteilung der Moskauer Vereinigung der Russischen Kultur. Nach 1990 kandidierte er mehrfach erfolglos bei den Duma-Wahlen. Er betätigte sich publizistisch und war Mitglied des russischen Schriftstellerverbandes.

Am 20. Oktober 2020 starb Wladimir Ossipow in Moskau.

Nikolai Mitrochin
Aus dem Polnischen von Tim Bohse
Letzte Aktualisierung: 05/23