Belarus

Laryssa Henijusch

Laryssa Henijusch, 1910–83

Larysa Henijuš

Ларыса Геніюш

Dichterin, Aktivistin der Exilregierung, Gefangene sowjetischer Straflager. Seit den 60er Jahren moralische Autorität unabhängiger Kreise in Belarus.

Laryssa Henijusch wurde 1910 auf dem Gutshof Żłobowce (Schlobauzy) unweit des in der Zwischenkriegszeit zu Polen gehörenden Städtchens Wołpa (Woupa) in der Grundbesitzerfamilie Mikłaszewicz (Miklaschewitsch) geboren. 1928 absolvierte sie das polnische Gymnasium in Wołkowysk (Waukawysk). 1937 ging sie nach Prag, wo ihr Ehemann, Janka Henijusch, ein Medizinstudium an der dortigen Universität aufgenommen hatte.

Nach dem Einmarsch sowjetischer Truppen in Polen im Herbst 1939 waren die Mikłaszewiczs in ihrer Heimat Repressalien ausgesetzt. Henijuschs Vater wurde verhaftet, ins Gefängnis in Grodno (Hrodna) gebracht und wenig später erschossen. Ihre Mutter und Schwestern wurden ins nördliche Kasachstan deportiert und starben dort. Die Brüder schlossen sich polnischen Militärverbänden an, die an der Seite der Alliierten gegen Hitlerdeutschland standen, und kamen im Kampf ums Leben. Henijusch selbst engagierte sich in Prag in der antisowjetisch eingestellten belarussischen Emigration und arbeitete für die Exilregierung der Belarussischen Volksrepublik (BNR). Ab 1939 veröffentlichte sie Beiträge in belarussischen Zeitschriften. 1942 erschien in Prag ihr erster Gedichtband.

Im März 1943 wurde Henijusch zur Generalsekretärin der BNR ernannt. Sie systematisierte und betreute das Archiv der BNR und widmete sich den sozialen Problemen von belarussischen Emigranten und politischen Flüchtlingen sowie belarussischen Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen in Deutschland. Am 5. März 1948 wurde sie zusammen mit ihrem Mann von den tschechoslowakischen Behörden verhaftet und am 12. August desselben Jahres sowjetischen Organen übergeben. Die erste Zeit verbrachten sie in Gefängnissen in Wien und in Lwiw, ab Ende 1948 kamen sie nach Minsk. Am 7. Februar 1949 verurteilte das Oberste Gericht der Belarussischen SSR Henijusch zu 25 Jahren Lagerhaft. Das Urteil gründete sich auf Artikel 66 Strafgesetzbuch der Belarussischen SSR von 1928 (Unterstützung der Bourgeoisie und deren Umsturzbemühungen zum Schaden der UdSSR) sowie auf Artikel 76 Strafgesetzbuch der Belarussischen SSR (konterrevolutionäre Tätigkeit). Auch ihr Mann Janka Henijusch wurde zu 25 Jahren Straflager verurteilt. Die Haftzeit verbrachte Laryssa Henijusch zunächst im Lager Inta in Nordrussland. Später wurde sie nach Abjes in der Republik Komi und von dort ins DubrawLag (Mordwinische Lager) verlegt. Im Lager korrespondierte sie heimlich mit dem ebenfalls inhaftierten Wassil Suprun, Anführer der in der Nachkriegszeit in Belarus agierenden, antisowjetischen Untergrundorganisation Čajka (Möwe). Im Rahmen einer Amnestie zu Beginn der Chruschtschow-Ära kamen die Henijuschs am 1. Juli 1956 frei. Ihre Strafe war auf acht Jahre reduziert worden, rehabilitiert wurden sie jedoch nicht. Sie ließen sich in der Kleinstadt Selwa im Bezirk Hrodna, der Heimatregion von Janka, nieder. Die sowjetische Staatsbürgerschaft hat Henijusch zeitlebens verweigert und beugte sich dem Druck der Behörden nicht.

Mit Unterstützung des Dichters Maksim Tank erschien 1967 ihre Gedichtsammlung „Mit dem Netz aus der Memel“ (Nevadam z Nëmana). Später konnte sie nur noch Literatur für Kinder veröffentlichen. Ihre Gedichte aus den 40er Jahren wurden jedoch immer wieder von Exilverlagen veröffentlicht.

Das Haus der Henijuschs in Selwa war bereits in den 60er Jahren ein Treffpunkt für unabhängig denkende Menschen aus ganz Belarus. Trotz Überwachung durch den KGB fanden immer wieder belarussische Literaten, Künstler, Wissenschaftler und patriotisch gesinnte Jugendliche den Weg dorthin, die später – ab Ende der 80er Jahre – eine führende Rolle in der politischen Opposition übernehmen sollten. Das Haus diente als ein informelles Zentrum des geistigen Widerstands der Belarussen gegen die sowjetischen Machthaber, und Laryssa Henijusch war ein Symbol dieses Widerstands. Im Lande selbst wie auch im Exil besaß sie große Autorität.

Umfangreichere Ausgaben von Henijuschs Werken konnten in Belarus erst nach dem Zerfall der Sowjetunion erscheinen. Ihre Lebenserinnerungen „Beichte“ (Spowedz‘) erschienen posthum. Darin beschreibt sie das Leben in Westbelarus während der Zwischenkriegszeit, das Leben im Prager Exil, die nationale Befreiungsbewegung, Lebensläufe von Kulturschaffenden der Belarussischen Volksrepublik sowie die Kriegsereignisse in Mitteleuropa und Belarus. Einen besonderen Platz nehmen die in Straflagern und Gefängnissen verbrachten Jahre ein. Sie schildert das tragische Schicksal ihrer Familie und ihrer Mitgefangenen, Vertretern des belarussischen, ukrainischen und polnischen Untergrundkampfes.

Laryssa Henijusch starb am 7. April 1983 in Selwa. Ihre Beerdigung wurde trotz Behinderungen seitens der Behörden zu einer Demonstration von Freunden und Anhängern. An ihrem Grab, den heute ein Gedenkstein schmückt, finden an ihrem Todestag patriotische Zusammenkünfte statt. Henijusch wurde bis heute nicht rehabilitiert.

Michas Tscharniauski
Aus dem Polnischen von Gero Lietz
Letzte Aktualisierung: 09/20