Erinnerungskultur in Belarus
Unter dem Eindruck der Politik von Glasnost und Perestroika entstand auch in Belarus eine Bürgerrechtsbewegung, die sich der Aufarbeitung der stalinistischen Repressionen verschrieb. Die Vereinigung Martyraloh Belarusi erforschte ähnlich wie die Gruppe Memorial in Russland die verschwiegenen Verbrechen der Stalin-Ära, lokalisierte Massengräber und setzte sich für eine Rehabilitierung der Opfer ein. Noch 1990 wurden erste Gesetze zur Wiedergutmachung und Entschädigung erlassen; allein 1988 und 1989 wurden 53.000 aus politischen Gründen Verfolgte begnadigt. Bereits im Schuljahr 1993/94 wurde die Sowjetunion in Schulbüchern als totalitäres Regime bezeichnet. Nach hoffnungsvollen Ansätzen bei der historischen Aufarbeitung in den frühen 90er Jahren trat die kritische Aufarbeitung der Vergangenheit unter dem Eindruck der wirtschaftlichen Krise und der damit verbundenen Probleme zurück. Mit der Wahl Aljaksandr Lukaschenkas zum Staatspräsidenten 1994 setzte eine Restauration sowjetischer Geschichtsbilder ein. Die Erinnerung an die Opfer der Repressionen wurde zu einem Randthema. Viele der sowjetischen Rituale wurden wieder eingeführt und für die unter den politischen und ökonomischen Verwerfungen nach Auflösung der Sowjetunion leidende Bevölkerung als Identifikationspunkte benutzt. Nach den als chaotisch erlebten Jahren nach der Auflösung der Sowjetunion versprach die autoritäre Herrschaft Lukaschenkas Stabilität. Menschenrechtsgruppen und jene, die sich für die historische Aufarbeitung starkmachten, wurden aus den öffentlichen Debatten verdrängt und als politische Gegner des Lukaschenka-Regimes verfolgt. Trotz dieser Marginalisierung ließ sich die Erinnerung an die Opfer der Repressionen nicht völlig negieren.
Dank des beharrlichen Engagements von Bürgerrechtsgruppen existieren heute über 100 kleinere Gedenkzeichen und Denkmäler, die in dem von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur erarbeiteten Band Erinnerungsorte an die Opfer des Kommunismus in Belarus erstmals beschrieben wurden. Aufgrund der öffentlichen Aufmerksamkeit kommen die belarussischen Behörden nicht umhin, einige große Gräberfelder wie die Hinrichtungsplätze der Stalinzeit in Kurapaty bei Minsk, Gomel oder Witebsk als Gedenkstätten offiziell anzuerkennen. Diese sind in ihrer Existenz jedoch ständig bedroht. Heute dominieren die bereits in der Sowjetzeit maßgebenden Narrative vom „Großen Vaterländischen Krieg“ und dem Sieg über den deutschen Faschismus die Geschichtspolitik des Landes. Die Verbrechen der Stalinzeit und die Repressionen haben darin bisher keinen angemessenen Platz gefunden.
Vgl.: Museen und Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer der kommunistischen Diktaturen, hrsg. v. Anna Kaminsky, erarbeitet v. Anna Kaminsky, Ruth Gleinig und Lena Ens, Dresden 2018, S. 47.