Geschichte der belarussischen Opposition
Der Kampf der belarussischen Dissidenten um demokratische Freiheiten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unterschied sich wesentlich von den oppositionellen Aktivitäten in Polen, Russland, Litauen, Lettland oder der Ukraine. Dies hat tiefe historische Ursachen.
Das Bewusstsein für eine belarussische Eigenständigkeit reicht bis in die Zeit des Großfürstentums Litauen zurück. Hier waren die Belarussen neben den Litauern eine der staatstragenden Volksgruppen, Staatssprache war das Ruthenische. Aus jener Zeit stammt auch das historische Wappenmotiv des unabhängigen Belarus – die Pahonja. Unter dem Einfluss von Polonisierung (17.–18. Jahrhundert) und Russifizierung (19.–20. Jahrhundert) geriet der einstige belarussisch-litauische Staat im gesellschaftlichen Bewusstsein fast vollständig in Vergessenheit. Ansatzweise überdauerte die Erinnerung in volkstümlichen Überlieferungen und nationalbewussten Intellektuellenkreisen. Von ihnen gingen seit dem frühen 20. Jahrhundert, als sich die belarussische Nationalbewegung herauszubilden begann, immer wieder Versuche aus, die belarussische nationale Identität wiederzubeleben. Die Bewegung war in erster Linie vom Erbe der Narodniki (Volkstümler) und von sozialdemokratischen Kräften geprägt. Das Fundament der „kulturellen Wiedergeburt“ war die belarussische Folklore, auf die sich auch so herausragende Dichter wie Janka Kupala, Jakub Kolas und Maksim Bahdanowitsch als führende Vertreter der ersten Generation der belarussischen Intelligenz bezogen. Ihre Aktivitäten im Kultur- und Bildungsbereich trugen maßgeblich zur Ausrufung des ersten unabhängigen belarussischen Staates 25. März 1918 bei. Die Belarussische Volksrepublik (Belaruskaja Narodnaja Rėspublika, BNR) existierte zwar nur kurz, hatte aber große Bedeutung für den späteren Kampf um die nationale Unabhängigkeit.
Im Januar 1919 erfolgte die Gründung der Belarussischen Sozialistischen Sowjetrepublik (Belaruskaja Saveckaja Sacyjalistyčnaja Rėspublika), die in der offiziellen Propaganda als Erfüllung des Strebens der Belarussen nach Freiheit und nationaler Selbstbestimmung dargestellt wurde. Nach dem Polnisch-Sowjetischen Krieg wurde Belarus gemäß dem Vertrag von Riga (März 1921) in zwei nahezu gleich große Gebiete aufgeteilt: Der östliche Teil kam unter sowjetische Herrschaft (ab Dezember 1922 als eine der Unionsrepubliken der UdSSR), der westliche Teil gehörte fortan zur Zweiten Polnischen Republik.
Die 20er Jahre führten in der Belarussischen SSR zu einem enormen kulturellen Aufschwung. Erstmals in der Geschichte wurde Belarussisch an Schulen sowie an einigen Hochschulen Unterrichts- bzw. Vorlesungssprache und damit der russischen, polnischen und jiddischen Sprache gleichgestellt. Der Gründung der Belarussischen Akademie der Wissenschaften folgten breitangelegte Forschungen zur heimischen Folklore. Doch schon zum Ende des Jahrzehnts rückten die Behörden im Namen des „Kampfes gegen den Nationalismus“ zunehmend von der zuvor proklamierten Belarussifizierung ab. Im Laufe der folgenden zwanzig Jahre wurde die belarussische Intelligenz nahezu vollständig vernichtet. Bis Ende der 30er Jahre waren fast 90 Prozent der belarussischen Schriftsteller von Repressalien betroffen. Den stalinistischen Säuberungen entkam auch die junge, bereits im neuen System groß gewordene Generation nicht. Zum Symbol des Terrors wurde das Waldgebiet von Kurapaty unweit von Minsk, wo die Opfer der Massenhinrichtungen verscharrt wurden. Seine Entdeckung Ende der 80er Jahre spielte eine wichtige Rolle für das damalige Erstarken der gesellschaftlichen Opposition.
Die belarussische Kultur unterlag einer zunehmenden Russifizierung. Anfang der 30er Jahre wurde eine Rechtschreibreform verfügt, deren Ziel die Angleichung der belarussischen und russischen Sprache war. In der Folge kam es zu einer parallelen Verwendung mehrerer grammatisch-orthografischer Regelwerke. Die demokratisch gesinnte Intelligenz bediente sich in der Regel der sogenannten Taraschkewiza (Taraškevica), benannt nach Branislau Taraschkewitsch, dem Autor eines der ersten Grammatiklehrbücher des Belarussischen. Offizielle Stellen hingegen richteten sich nach der vom Rat der Volkskommissare der Belarussischen SSR eingeführten „Narkamauka“ (Narkаmаŭka), benannt nach der Kurzform „Narkamat“ für „narodny kamisaryjat“ (Volkskommissariat). Heute ist die Verwendung der von oppositionellen Kreisen bevorzugten Taraschkewiza offiziell mit einem Tabu belegt.
Die 20er und 30er Jahre standen im polnischen wie auch im sowjetischen Teil des Landes im Zeichen eines erbitterten Kampfes um nationale Werte. Jedoch gelang es, die zu Beginn des Jahrhunderts geborenen nationalstaatlichen Ideen und Traditionen in Westbelarus nicht nur zu bewahren, sondern auch weiterzuentwickeln. Der stalinistische Terror ergriff diese Gebiete erst im September 1939, als sie infolge des Hitler-Stalin-Paktes der UdSSR einverleibt wurden.
Die Jahre des Zweiten Weltkriegs gehörten zu den verheerendsten der neueren belarussischen Geschichte: Von Juni 1941 bis Juni 1944 war das Land von Hitlerdeutschland besetzt. Die Nachkriegspropaganda schuf den Mythos einer kommunistischen „Partisanenrepublik“. Die Strategie war erfolgreich – der „Mythos des Krieges“ ist in Belarus bis heute lebendig. Tatsächlich jedoch existierten in den Jahren der Besatzung verschiedene politische Kräfte und Untergrundstrukturen, die oft gegensätzliche Ziele verfolgten. Teile der belarussischen Nationalisten knüpften Kontakte zu den Besatzungsbehörden und bildeten in Minsk eine prodeutsche Marionettenregierung unter Radaslau Astrouski. Gegen die Deutschen kämpften in Belarus die polnische Heimatarmee (AK), sowjetische Partisanengruppen sowie Einheiten der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA). Der Krieg war auch nach dem Einrücken der Roten Armee im Sommer 1944 keineswegs beendet. In Polesien kämpften (nunmehr gegen die Sowjetmacht) UPA-Einheiten, die AK setzte ihren Widerstand fort und im Nordwesten agierten die litauischen und lettischen sogenannten Waldbrüder.
Auch wenn die belarussischen Behörden um einen Ausgleich der Unterschiede zwischen dem westlichen und dem östlichen Teil des Landes bemüht waren, ist die auf die Zwischenkriegszeit zurückgehende Teilung bis heute zu spüren. In der Nachkriegszeit entwickelte sich die nationale Bewegung vor allem im westlichen Landesteil. An den Schulen in Westbelarus formierten sich in den ersten zehn Jahren im Untergrund patriotische Jugendorganisationen. Zu den wichtigsten zählten Čajka in Slonim, das Zentrum der Belarussischen Befreiungsbewegung, der Bund der belarussischen Patrioten (in Hlybokaje und in Pastawy) und Untergrundorganisationen im Gebiet Mjadsel und Smarhon. Alle diese Gruppierungen wurden vom staatlichen Geheimdienst enttarnt.