Erinnerungskultur in Estland
Mit der staatlichen Unabhängigkeit und dem Zerfall der Sowjetunion 1991 rehabilitierte die estnische Regierung offiziell die Opfer von Deportation und Verbannung. Zugleich verabschiedete sie ein Gesetz zur Regelung der Rückerstattung beschlagnahmten Eigentums an die früheren Besitzer. Bis 1995 fand auf der Grundlage der in Estland verbliebenden KGB-Unterlagen eine Lustration statt, in deren Folge Mitarbeiter von Gestapo und KGB aus öffentlichen Ämtern entfernt wurden. 2002 erklärte das estnische Parlament das kommunistische Regime der Sowjetunion zu einem verbrecherischen Regime und die von ihm begangenen Verbrechen ebenso wie die der NS-Okkupation zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die juristische Aufarbeitung verlief jedoch unbefriedigend, nur zwölf Verfahren wurden angestrengt und elf Angeklagte zu Haftstrafen verurteilt. Gleichzeitig versuchte die estnische Regierung, die Russifizierung des Landes rückgängig zu machen. Estnisch wurde Amts- und Landessprache, sowjetische Denkmäler wurden demontiert und Straßen umbenannt. Am 15. Februar 2007 beschloss das estnische Parlament ein Gesetz zum Verbot von Denkmälern, die die sowjetische Fremdherrschaft verherrlichen. Zu Auseinandersetzungen zwischen Teilen der russischen Bevölkerung und estnischen Sicherheitsleuten kam es, als das Denkmal für die sowjetischen Soldaten, das 1947 als Symbol für die Befreiung Estlands von der NS-Herrschaft errichtet worden war, Ende April 2007 auf einen Militärfriedhof am Rand von Tallinn verlagert wurde.
Parallel zu den Straßenumbenennungen und Denkmalsstürzen wurden Monumente aufgestellt, die an die Unterdrückung der estnischen Bevölkerung und den Verlust der Unabhängigkeit sowohl unter der sowjetischen als auch unter der deutschen Besatzung erinnern. Das von einer privaten Stiftung getragene Okkupationsmuseum im Zentrum von Tallinn, das Historische Nationalmuseum sowie Stadt- und Heimatmuseen befassen sich mit den Besetzungen und deren Folgen.
Untersuchungskommissionen sollen die materiellen und personellen Verluste während der Besatzungsherrschaft dokumentieren. Die 1998 gegründete Estnische Stiftung zur Untersuchung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit und ihr Nachfolger – das 2008 gegründete Estnische Institut für Historisches Gedächtnis – haben zahlreiche Publikationen und wissenschaftliche Studien zur Geschichte und den Folgen der Fremdherrschaft in Estland im 20. Jahrhundert vorgelegt.
Am 25. März und am 14. Juni jedes Jahres sowie am 23. August wird in Gedenkzeremonien der Opfer der totalitären Herrschaft in Estland gedacht.
Vgl.: Museen und Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer der kommunistischen Diktaturen, hrsg. v. Anna Kaminsky, erarbeitet v. Anna Kaminsky, Ruth Gleinig und Lena Ens, Dresden 2018, S. 99.