Geschichte der estnischen Opposition
Direkt nach der Annexion Estlands durch die Sowjetunion im Juni 1940 begann der estnische Widerstand gegen die Sowjetmacht, der bis zur Widererlangung der estnischen Unabhängigkeit im August 1991 beharrlich andauerte. Da unter den Bedingungen des totalitären Sowjetregimes ein breiter aktiver Widerstand nicht möglich war, kam es bis Ende der 80er Jahre mit Ausnahme von Jugendunruhen in Pärnu (1973) und Tallinn (1980) zu keinerlei offenen Protesten in Estland. Widerständiges Verhalten bestand eher darin, sowjetische Anordnungen zu sabotieren und die nationale und kulturelle Eigenart zu bewahren.
Den estnischen Widerstand kann man in sechs Einheiten unterteilen:
- Die Tätigkeit der Untergrundorganisationen von Juni 1940 bis Juni 1941: Verbreiten von Flugschriften, Hissen der blau-schwarz-weißen Nationalflagge Estlands und Organisieren von Straßendemonstrationen.
- Der bewaffnete Kampf der Waldbrüder. Diese überfielen im Sommer 1941 Einheiten der Roten Armee, die vor der Übermacht der deutschen Wehrmacht zurückwichen. Im Frühjahr 1944 wurde der Partisanenkampf gegen die zurückkehrenden sowjetischen Einheiten und Besatzungsbehörden wieder aufgenommen und bis 1953 fortgesetzt. Die antisowjetische Partisanenbewegung wurde durch spezielle Liquidierungsbataillone des sowjetischen Ministeriums für Staatssicherheit und des Innenministeriums ausgeschaltet, die massenhaft Terror und die Taktik der verbrannten Erde anwandten.
- Die Tätigkeit von (hauptsächlich Jugend-)Untergrundorganisationen zwischen 1944 und 1966. (Bis 1953 war diese städtische Untergrundbewegung mit den Waldbrüder eng verbunden.)-Die Untergrundtätigkeit demokratischer Kreise von 1968 bis 1975.
- Eine starke Widerstandsbewegung gab es von 1977 bis 1985. Deren wichtigstes Ziel war die Verteidigung staatsbürgerlicher Freiheiten, der Menschenrechte und des Rechts auf nationale Selbstbestimmung.
- Die landesweite Unabhängigkeitsbewegung („Singende Revolution“) von 1987 bis 1991.
Die Tätigkeit der Partisanen begann Anfang der 50er Jahre. Die meisten Waldbrüder kamen dabei zu Tode oder wurden verhaftet. Einheiten der sowjetischen Staatssicherheit und des Innenministeriums spürten sie auf und zerstörten ihre Verstecke. Nach dem Ende der bewaffneten Kämpfe blieb die ältere Generation lange Zeit passiv. Widerstand wurde vor allem zur Domäne konspirativer Jugendorganisationen.
In den estnischen Archiven befinden sich Informationen über die von März 1954 bis 1958 aufgedeckten und liquidierten antisowjetischen Jugendorganisationen: Zwischen April 1954 und Ende 1957 gab es neun solcher Gruppen, denen insgesamt 94 Personen angehörten. Von diesen wurden 21 verhaftet und 73 behördlich überwacht. In derselben Zeit wurde in 64 Fällen die Verbreitung von Flugschriften (von 54 Verfassern in 316 Exemplaren) registriert; außerdem wurde die Verbreitung von 149 anonymen Dokumenten (von 93 Verfassern) vermerkt, 22-mal wurden aufgemalte Parolen im öffentlichen Raum entdeckt.
Aus operativen Agentenberichten der Abteilung IV des KGB beim Ministerrat der Estnischen SSR geht hervor, dass der Sicherheitsdienst 1958 acht Jugendgruppen mit insgesamt 38 Personen aufgespürt und aufgelöst hat.
Anfang der 60er Jahre brach die Tätigkeit der konspirativen Jugendgruppen zusammen. Der letzte politische Prozess fand mit dem Verfahren gegen den Estnischen Bund der Nationalisten (Eesti Rahvuslaste Liit) Ende 1962 statt. Danach kam es nur noch sporadisch zu Untergrundaktionen. Die Tätigkeit der konspirativen Jugendgruppen in Estland kam im Zuge des innenpolitischen Wandels in der Sowjetunion zum Erliegen. In den 60er Jahren veränderte sich die Situation besonders gravierend. Ein Großteil der Gesellschaft passte sich an die Spielregeln des Systems an und betrachtete dieses als „notwendiges Übel“. Die Menschen brachten dem Regime mehr Loyalität entgegen und waren eher geneigt, die sowjetischen Rituale zu übernehmen.
Auch die Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei begann man pragmatischer zu betrachten. Galt der Eintritt in Partei oder Komsomol in der stalinistischen Zeit noch als Überlaufen ins feindliche Lager, wurde die Parteimitgliedschaft in den 60er Jahren nicht mehr als ideologische Positionierung betrachtet. Man trat eher bei, um die berufliche Karriere und sich den Zugang zu zahlreichen Privilegien (zum Beispiel Beförderungen im Beruf, Zuteilung einer Wohnung oder eines Autos, Auslandsreisen) zu sichern. Die Zahl der Esten, die der estnischen KP angehörten, stieg beträchtlich an: Zum ersten Mal seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren es mehr als 50 Prozent der erwachsenen Bevölkerung. Am höchsten war ihr Anteil 1971 mit 52,3 Prozent, 1981 verringerte er sich wieder auf 50,8 Prozent.
Chruschtschows „Tauwetterperiode“ war in Estland vor allem eine Phase der Wiederbelebung der Kultur. Autoren aus der Zeit der Unabhängigkeit und sogar einige aus der Emigration konnten wieder gedruckt werden. Dank der Inbetriebnahme der Fährverbindung zwischen Tallinn und Helsinki kamen mehr Touristen nach Estland. Die Möglichkeit, im Norden des Landes finnisches Fernsehen zu empfangen, öffnete den Esten ein Fenster zur Welt. Der Lebensstandard verbesserte sich erheblich; ähnlich wie in den anderen baltischen Republiken war er deutlich höher als in der restlichen Sowjetunion. Eine Reise nach Estland, Lettland oder Litauen betrachteten Sowjetbürger anderer Regionen als Begegnung mit der für sie unerreichbaren „westlichen“, „europäischen“ Kultur, vor allem in materieller Hinsicht.
Anfang der 60er Jahre wurde die Universität Tartu zu einem der Hauptzentren des wissenschaftlichen Lebens nicht nur Estlands, sondern der gesamten Sowjetunion. Es entwickelte sich dort ein Milieu unabhängig denkender Esten und Russen. Moskauer Geisteswissenschaftler wie Wjatscheslaw Iwanow, Alexander Piatigorsky, Jurij Lewin, Julian Oksman, Arkadij Bielinkow und Natalja Gorbanewskaja waren eng verbunden mit der Fakultät für russische Literaturgeschichte, die von Professor Jurij M. Lotman, dem Begründer der Tartu-Moskauer Semiotik, geleitet wurde.
Studenten der Universität in Tartu und Schüler von Professor Lotman waren Gabriel Superfin und Arseni Roginski, die später an bedeutenden Initiativen des russischen Samisdat beteiligt waren. Die von der Universität ausgerichteten Konferenzen zogen Intellektuelle aus der ganzen Sowjetunion an. Die Hochschule wurde eines der wichtigsten Zentren der Vervielfältigung und Verbreitung unabhängiger Literatur.
Alexander Solschenizyn erneuerte nach der Veröffentlichung seiner Erzählung „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ (1962) den Kontakt zu seinen estnischen Freunden aus dem Straflager. In den Jahren 1965 bis 1967 schuf er in Estland unter strikter Geheimhaltung das Grundgerüst seines Hauptwerks „Archipel Gulag“.
Während der Tauwetter-Periode entstanden nacheinander verschiedene estnische Untergrundgruppen. In ihren Aktivitäten beschränkten sie sich auf Estland und estnisch Probleme; die Mitglieder verpflichteten sich zur Geheimhaltung. Erst Ende der 60er Jahre nahmen estnische Oppositionelle mit russischen Dissidenten in Moskau und Leningrad Kontakt auf.
1969/70 gab es in Estland vier geheime Organisationen. Zwei davon, der 1968 von Offizieren der estnischen Kriegsflotte mit Gennady Gawrilow an der Spitze gegründete „Verband der Kämpfer für politische Rechte“ und die von Artem Juskevitš und Sergei Soldatow gegründete Demokratische Bewegung der Sowjetunion, waren politische Organisationen. Ihr Hauptziel war nicht die Wiedererlangung der staatlichen Unabhängigkeit Estlands, sondern der radikale demokratische Umbau der UdSSR. Beide hatten bedeutenden Einfluss auf die „Estnische Demokratische Bewegung“, besonders die Demokratische Bewegung der Sowjetunion.
Den beiden anderen Gruppen, der Estnischen Volksfront und der „Estnischen Demokratischen Bewegung“, gehörten hauptsächlich Mitglieder der Demokratischen Bewegung der Sowjetunion an. Jedoch konzentrierten sie sich im Unterschied zu Letzterer ausschließlich auf die Lösung estnischer Probleme. Im Herbst 1972 sandten beide Organisationen eine Petition an UN-Generalsekretär Kurt Waldheim mit der Forderung, die sowjetische Besatzung in Estland zu beenden und freie Wahlen unter der Aufsicht der Vereinten Nationen durchzuführen (siehe Memorandum der „Estnischen Demokratischen Bewegung“ und der Estnischen Volksfront).
Die Zerschlagung dieser Organisationen im Winter 1974/75 beendete die Phase der Untergrundaktivitäten der estnischen Widerstandsbewegung. Das Wirken der Moskauer Menschenrechtsaktivisten zeigte nämlich, dass öffentlich verlautbarte Meinungsäußerungen sowie offene Erklärungen und Appelle weit bessere Ergebnisse brachten.