Ukraine

Mykola Rudenko

Mykola Rudenko, 1920–2004

Mykola Rudenko

Микола Руденко

Dichter, Publizist, Philosoph, Menschenrechtsaktivist, Mitbegründer der Ukrainischen Helsinki-Gruppe, politischer Gefangener.

Mykola Rudenko wurde 1920 in dem im Gebiet Luhansk gelegenen Dorf Jurjiwka (Jurewka) geboren. Zusammen mit zwei Geschwistern wuchs er in einer Bergarbeiterfamilie auf. Sein Vater kam 1927 bei einem Grubenunglück ums Leben. Den Bauernhof der Familie bewirtschaftete seine Mutter noch ein Jahr allein, bis sie ihn an die Kolchose abtreten musste, wo sie dann angestellt war. Im Alter von acht Jahren verlor Rudenko infolge einer Verletzung sein Sehvermögen auf dem linken Auge. Sein Leben war geprägt von der Erinnerung an die tragischen Ereignisse des Holodomor der Jahre 1932 und 1933.

Nach Abschluss der Schule wurde Rudenko Mitglied der Kommunistischen Partei. 1939 gewann er einen Wettbewerb des Volkskommissariats für Bildung, erhielt ein Stipendium und konnte an der Universität Kiew ein Philologiestudium aufnehmen. Nach nur zwei Monaten wurde er zum Militärdienst einberufen und kämpfte als Soldat im Zweiten Weltkrieg. Im Oktober 1941 wurde er bei Leningrad schwer verwundet. Einer langwierigen Behandlung folgte seine Ernennung zum Politoffizier in einem Frontlazarett. 1946 wurde er aus den Streitkräften entlassen, an die Universität kehrte er jedoch nicht zurück. Nach Erscheinen seines Gedichtbands „Vom Marsch“ (Z pochodu, 1947), wurde er in den Ukrainischen Schriftstellerverband aufgenommen. Er arbeitete als Sekretär des Verlags „Radjans’kyj pys’mennyk“, in der Redaktion der Zeitschrift „Dnipro“ und als Sekretär der Parteileitung des Schriftstellerverbandes. Als Mitglied der Kommunistischen Partei der Ukraine gehörte er zudem dem Stadtkomitee Kiew an. Rudenko brachte mehrere Gedichtbände heraus und verfasste die Romane „Wind ins Gesicht (Viter v oblyččja, 1955), „Der letzte Säbel“ (Ostannja šabla, 1959) sowie die phantastischen Romane „Auf den Spuren der kosmischen Katastrophe“ (Slidamy kosmičnoji katastrofy“, 1962) und „Der Zauberbumerang“ (Čarivny bumerang“, 1966).

Im Zuge des „Kampfes gegen den Kosmopolitismus“ hatte man 1949 von Rudenko gefordert, negative Gutachten über Autoren jüdischer Herkunft zu erstellen. Da er den entsprechenden Anweisungen der Gebietsparteileitung nicht nachkam, wurde im Herbst 1949 ein Parteiausschluss gegen ihn vorbereitet (formal wegen fehlender Beitragszahlungen), jedoch nicht vollzogen. Bis 1950 legte er alle Parteifunktionen nieder und hatte damit auch keinen Zugang mehr zu den Privilegien des sowjetischen Establishments. Der Bruch mit dem Stalin-Kult auf dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 war für Rudenko dennoch ein Schock. „Lange bin ich ein Parteimensch geblieben“, sagte er später einmal in einem Interview. „Lange hielt ich den Glauben an das große Werk der Kommunistischen Partei aufrecht und war treuer Stalinanhänger. Ich schrieb zahlreiche Gedichte, die dem sowjetischen Führer gewidmet waren, und ich verfasste sogar ein Poem über Stalin.“

Als Beginn seiner Dissidententätigkeit sah er selbst seine Rede auf dem Plenum des Leitungsgremiums des Ukrainischen Schriftstellerverbands 1957. Darin warf er der er der sowjetischen Bürokratie die Russifizierung der Ukraine vor und gab ihr die Schuld am Stalin-Kult und an den Versuchen seiner Wiederbelebung. 1960 mahnte er in einem Brief an Nikita Chruschtschow die Notwendigkeit von Reformen des staatlichen Systems unter den neuen Bedingungen an. Zu wandeln habe sich laut Rudenko insbesondere der Verwaltungsapparat (in dem die Einflussnahme der Partei verringert werden müsse) sowie das Wahlsystem. Dabei gehe es nicht allein um Stalin, denn die Tatsache, dass ein Paranoiker und Sadist wie er jahrelang an der Spitze von Partei und Staat habe stehen können, zeige den falschen Ansatz der diesem Staat zugrunde liegenden Theorie. Insbesondere die Marxʼsche Mehrwerttheorie hielt Rudenko für falsch. Er sah den Mehrwert nicht durch die Ausbeutung der Arbeiter generiert, sondern durch Sonnenenergie und bäuerliche Arbeit. Auch die Vernichtung von Millionen von Menschen unter Stalin war seiner Meinung nach nicht auf dessen Charakter zurückzuführen, sondern auf Fehler der Marxʼschen Theorie. Am 18. April 1963 verfasste er ein Telegramm an Chruschtschow, in dem es hieß: „Dem sowjetischen Volk droht unweigerlich die Katastrophe. Durch gesamtnationale Anstrengung kann sie vermieden werden. Bitte empfangen Sie mich persönlich, ich werde alles detailliert erklären. M. Rudenko.“ Den Konsequenzen dieses Schrittes war er sich durchaus bewusst. Auch dem ZK der Kommunistischen Partei der Ukraine teilte er seine Überlegungen mit. Umgehend waren Gerüchte im Umlauf, Rudenko sei geisteskrank. Seinen Familienangehörigen empfahl man, eine entsprechende ärztliche Behandlung in die Wege zu leiten.

In den folgenden 14 Jahren verfasste Rudenko weitere Briefe an das ZK der KPdSU und der ukrainischen KP, die jedoch unbeantwortet blieben. Unterdessen wurde er vom KGB observiert. Am 14. März 1973 forderte Rudenko in einem Brief an den Ersten Sekretär des ZK der ukrainischen KP Wolodymyr Schtscherbitzki die Beseitigung der in seiner Wohnung installierten Abhöreinrichtungen.

Anfang der 70er Jahre freundete sich Rudenko mit dem Dichter und Dissidenten Oleksаndr Berdnyk an. Wie dieser wurde 1972 auch Rudenko mit einem Publikationsverbot belegt. Wegen „metaphysischer Entstellung des Marxismus“ folgte 1974 sein Ausschluss aus der KPdSU und 1975 aus der ukrainischen KP. Er musste sein Auto und sein Wochenendhaus verkaufen und arbeitete fortan als Nachwächter. 1974 ließ Rudenko Andrei Sacharow das soeben fertiggestellte Manuskript „Energie des Fortschritts“ (Energija progresu) zukommen und lernte ihn (und Walentin Turtschin) bei einer Diskussion über den Text in Moskau auch persönlich kennen. Für die Verbreitung im Samisdat bat Sacharow Rudenko um eine populärwissenschaftliche Fassung des Textes. So entstanden die „Ökonomischen Dialoge“ (Ekonomični monolohy), die 1975 inoffiziell kursierten. Rudenko engagierte sich in der sowjetischen Sektion von Amnesty International. Am 18. April 1975, einen Monat, nachdem er zum ersten Mal an einer Versammlung der Gruppe teilgenommen hatte, wurde er verhaftet. Mit der Auflage, seinen Aufenthaltsort nicht zu verlassen, wurde er wieder auf freien Fuß gesetzt.

Als Rudenko im März 1976 einen Antrag auf erneute Zuerkennung einer Invalidenrente stellte, wurde er in einer Klinik für Kriegsveteranen gegen seinen Willen und ohne rechtliche Grundlage psychiatrischen Begutachtung unterzogen. Allein den Ärzten war es zu verdanken, dass er nicht in eine psychiatrische Anstalt gesperrt wurde. Während seines Klinikaufenthalts verfasste er das Poem „Krankengeschichte“ (Istorija chvoroby), das im Samisdat unter dem Titel „Ich bin frei“ (Ja vilnyj) erschien, sowie das Gedicht „Das Kreuz“ (Chrest) über den Holodomor der Jahre 1932 und 1933.

In Absprache mit Pjotr Grigorenko, Oksana Meschko, Oleksandr Berdnyk, Lewko Lukjanenko, Iwan Kandyba, Oleksa Tychyj , Mykola Matusewytsch, Myroslaw Marynowytsch und Nina Strokata gab Rudenko am 9. November 1976 im Rahmen einer Pressekonferenz für ausländische Journalisten in der Wohnung von Andrei Sacharow in Moskau die Gründung der Ukrainischen Helsinki-Gruppe bekannt. Seine Wohnung in Puschtscha Wodizja unweit von Kiew wurde noch am selben Tag mit Steinen beworfen. Am 23. und 24. Dezember 1976 folgte eine Wohnungsdurchsuchung, bei der ihm 39 US-Dollar untergeschoben wurden. Schon bald erschienen die von ihm verfasste Gründungserklärung der Ukrainischen Helsinki-Gruppe und das „Memorandum Nr. 1“. Im Kapitel „Typische Menschenrechtsverletzungen“ enthielt es Informationen über den Holodomor und die Repressalien der 30er Jahre, über die Niederschlagung der Ukrainischen Aufständischen Armee sowie über die gegen die Generation der Sechziger gerichteten Maßnahmen. Bestandteil des Memorandums waren auch ein Verzeichnis der Straflager sowie eine Liste von ukrainischen politischen Gefangenen. Im Januar 1977 erstellte Rudenko erste Entwürfe für das „Memorandum Nr. 2“ und das „Memorandum Nr. 3“.

Am 5. Februar 1977 wurde Rudenko in Kiew verhaftet und mit dem Flugzeug in die Untersuchungshaftanstalt Donezk gebracht. Die Verhandlungen des gegen ihn und Oleksa Tychyj eröffneten Verfahrens fanden vom 23. Juni bis 1. Juli 1977 in der Kleinstadt Druschkiwka (Druschkowka, Oblast Donezk) statt. Dies hatte „verfahrenstechnische Gründe“, denn Tychyj war dort geboren und hatte in der Nähe seinen Wohnsitz. Als einer der Zeugen der Anklage trat Professor Ilja Stebun auf, den Rudenko seinerseits in früheren Jahren gegen den Vorwurf des „Kosmopolitismus“ in Schutz genommen hatte. Das Bezirksgericht Donezk verurteilte Rudenko auf der Grundlage von Artikel 62, Paragraf 1 Strafgesetzbuch der Ukrainischen SRR (entspricht Artikel 70, Paragraf 1 Strafgesetzbuch der RSFSR) zu sieben Jahren Lagerhaft und fünf Jahren Verbannung. Rudenkos publizistische Beiträge, seine künstlerischen Werke und seine mündlichen Äußerungen wurden ohne weitere Ausführungen als verleumderisch bezeichnet. Seine Arbeit „Energie des Fortschritts“ trage „feindlichen Charakter“ und enthalte „Hirngespinste, die die sowjetische Staats- und Gesellschaftsordnung verleumden“. Beweise, dass Rudenko die Absicht hatte, diese Ordnung infrage zu stellen, tauchen in der Urteilsbegründung jedoch nicht auf.

Rudenko war zunächst in den mordwinischen Lagern und ab September 1981 in den Permer Lagern inhaftiert. Aufgrund einer Sonderverfügung der Zensurbehörden der UdSSR und der Ukrainischen SSR wurden 1978 zudem sämtliche Werke Rudenkos (insgesamt 17 Titel) aus den Bibliotheken und Büchereien entfernt. Nach der Lagerhaft gelangte er am 5. März 1984 an seinen Verbannungsort, das Dorf Majma im Autonomen Gebiet Gorno-Altajsk.

Im Dezember 1987 endete Rudenkos Verbannungszeit. Kurz zuvor war nach Verbüßung ihrer eigenen Lagerhaft auch seine Frau, Raissa Rudenko, nach Majma gekommen. Sie war 1981 wegen der Verbreitung von Samisdat-Erzeugnissen und wegen der Übermittlung von Lagerkorrespondenz ins Ausland verurteilt worden. Da die Kiewer Wohnung des Ehepaars beschlagnahmt worden war, gab es keinen Ort mehr, an den sie zurückkehren konnten. Noch im selben Jahr gelang es ihnen jedoch, nach Deutschland und von dort weiter in die USA auszureisen, wo Rudenko für Radio Liberty und Voice of America arbeitete. 1988 wurde ihm die sowjetische Staatsbürgerschaft entzogen. Er leitete die Auslandsvertretung der Ukrainischen Helsinki-Gruppe und später der Ukrainischen Helsinki-Union.

Im September 1990 kehrte Rudenko (und ein Jahr später auch seine Frau) nach Kiew zurück. Er wurde rehabilitiert, und die Aberkennung der Staatsbürgerschaft wurde zurückgenommen. Er war Gründungsmitglied der Ukrainischen Republikanischen Partei und ab 1997 Mitglied der Republikanischen Christlichen Partei. 1998 veröffentlichte er seine Erinnerungen „Das größte Wunder – das Leben“ (Najbilše dyvo – žyttja). Rudenko wurde mehrfach ausgezeichnet: 1993 erhielt er für seinen Roman „Adlerschlucht“ (Orlova Balka, 1982) den Taras-Schewtschenko-Staatspreis. Für sein Engagement für die staatliche Unabhängigkeit der Ukraine und die Verteidigung der Menschenrechte sowie für seine Verdienste um die Entwicklung der ukrainischen Literatur und für sein literarisches Schaffen wurde er 1996 mit dem Verdienstorden III. Klasse und 2000 mit dem Titel „Held der Ukraine“ geehrt.

Mykola Rudenko starb am 1. April 2004 in Kiew.

Iryna Rapp, Wassyl Owsijenko
Aus dem Polnischen von Gero Lietz
Letzte Aktualisierung: 09/20