Ukraine

Olexa Tychyj

Olexa Tychyj, 1927–84

Oleksa Tychyj / Aleksej Tichij

Олексa Тихий / Алексей Тихий

Lehrer, Samisdat-Autor, engagiert im Vertrieb von Samisdat-Publikationen, Gründungsmitglied der Ukrainischen Helsinki-Gruppe, zweimal aus politischen Gründen in Haft.

Olexa (Oleksij) Tychy wurde 1927 auf dem Hof Ischewka (Gebiet Stalino, heute: Donezk) in einer Bauernfamilie geboren. Er besuchte das Landwirtschaftsinstitut in Saporischschja (Saporoschje) und die Eisenbahningenieurschule in Dnipropetrowsk (Dnepropetrowsk, heute: Dnipro). Nach seinem Studium an der Philosophischen Fakultät der Universität Moskau arbeitete er als Lehrer für Physik, Mathematik und Ukrainisch in den Bezirken Saporischschja und Stalino, später auch als Bauarbeiter und Feuerwehrmann.

Nachdem Tychy 1948 Kritik an einem Deputiertenkandidaten geübt hatte, erfolgte seine erste Festnahme durch den KGB. Nach „vorbeugenden Gesprächen“ wurde er wieder auf freien Fuß gesetzt. Zur zweiten Verhaftung kam es am 15. Februar 1957. Damals arbeitete er als Lehrer an einer Oberschule in der Kleinstadt Oleksijewo-Druschkiwka. Grund war ein Brief an das Zentralkomitee der KPdSU, in dem er gegen die Besetzung Ungarns durch sowjetische Truppen protestiert hatte. Außerdem hatte er sich während einer Lehrerversammlung kritisch über das sowjetische Schulwesen geäußert. Am 18. April 1957 verurteilte ihn das Bezirksgericht Stalino nach Artikel 54, Paragraf 10 Strafgesetzbuch der Ukrainischen SSR (entspricht Artikel 58, Paragraf 10 Strafgesetzbuch der RSFSR) zu sieben Jahren Lagerhaft und entzog ihm zudem für fünf Jahre seine bürgerlichen Rechte. Seine Strafe verbüßte er in den mordwinischen Lagern. In den Jahren 1958 und 1959 war er zwischenzeitlich im Wladimir-Gefängnis inhaftiert. Aus der Lagerhaft entlassen wurde er 1964. Da er nicht mehr als Lehrer arbeiten durfte, verdiente er seinen Lebensunterhalt von nun an als Monteur, Feuerwehrmann und Ziegelei-Arbeiter.

Tychy verbreitete Samisdat-Literatur und verfasste selbst einige im Samisdat verlegte Beiträge. Darin beschrieb er die klägliche Lage der ukrainischen Sprache und Kultur sowie die schwierige Situation in den ländlichen Gebiete im Donbass – der am stärksten russifizierten Region der Ukraine. Ein Beispiel ist der 1972 erschienene Aufsatz „Überlegungen zur ukrainischen Sprache und Kultur im Gebiet Donezk“ (Rozdumy pro ukrajins‘ku movu i kulturu na Doneččyni). Das Problem der Russifizierung griff er auch 1973 in einem Brief an das Präsidium des Obersten Sowjets auf. Er stellte die Anthologie „Die Sprache des Volkes. Das Volk“ (Mova narodu. Narod) mit Beiträgen führender Vertreter der ukrainischen Kultur zusammen und verfasste ein Wörterbuch des ukrainischen Dialekts im Donbass. Das Manuskript der Anthologie wurde während einer Wohnungsdurchsuchung im Juni 1976 beschlagnahmt.

Im November 1976 war Tychy maßgeblich an der Entstehung der Ukrainischen Helsinki-Gruppe (UHG) beteiligt. Am 4. Februar 1977 wurde er erneut verhaftet und der „antisowjetischen Agitation und Propaganda“ angeklagt. Der Prozess gegen ihn (und gegen Mykola Rudenko) fand vom 23. Juni bis zum 1. Juli 1977 in Druschkiwka bei Donezk statt. Zur Last gelegt wurde ihm die Erstellung mehrerer Artikel, unter anderem „Ukrainisches Wort“ (Ukrajins‘ke slovo), „Gedanken zur Muttersprache“ Dumky pro ridnu movu), „Probleme ländlicher Gebiete“ (Sils‘ki problemy). Anklagepunkte waren außerdem die Gründungserklärung der UHG und das UHG-Memorandum Nr. 1, an denen er mitgewirkt und die er unterzeichnet hatte. Während der Verhandlung konnte ihm anhand seiner Texte und Äußerungen jedoch keine Verleumdung des sowjetischen Systems oder eine Untergrabung der Gesellschaftsordnung nachgewiesen werden. Das Bezirksgericht Donezk verurteilte gemäß Artikel 62, Paragraf 2 Strafgesetzbuch der Ukrainischen SSR (entspricht Artikel 70, Paragraf 2 Strafgesetzbuch der RSFSR) und Artikel 222 Strafgesetzbuch der Ukrainischen SSR wegen „illegalen Waffenbesitzes“ (während einer Wohnungsdurchsuchung im Dezember 1976 war bei ihm eine alte deutsche Flinte gefunden worden). Das Urteil lautete zehn Jahre Lagerhaft mit besonderem Vollzug und fünf Jahre Verbannung. Er galt als „besonders gefährlicher Rückfalltäter“ und kam in die mordwinischen Lager, wo er an Protestaktionen der politischen Gefangenen teilnahm, darunter ein mehrwöchiger Hungerstreik sowie Petitionen und Aufrufe. Als Mitglied eines Häftlingskomitees setzte er sich innerhalb der Gruppe der politischen Gefangenen für ein Klima gegenseitigen Respekts sowie die Anerkennung der humanitären Rechte des Einzelnen, ungeachtet etwaiger politischer und weltanschaulicher Unterschiede ein.

1978 verfasste Tychy gemeinsam mit Wassyl Romaniuk die Schrift „Das historische Schicksal der Ukraine. Brief der ukrainischen politischen Gefangenen“ (Istoryčna dola Ukrajiny. Lyst ukrajins‘kych politvjazniv), in der sie die Prinzipien der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte als das Fundament einer nationalen Existenz anerkannten. Die Autoren distanzierten sich von der Politik der KPdSU in der nationalen Frage und ebenso von der offiziellen Lesart des Begriffs Demokratie. Im Kapitel „Das historische Schicksal der Ukraine“ (Istoryčna dola Ukrajiny) beschrieben sie die Folgen der Anbindung der Ukraine an Russland, die in der Sowjetzeit besonders gravierend waren (Entkulakisierung ab Ende der 20er Jahre, Holodomor 1932–33, Repressalien nach dem Zweiten Weltkrieg). Auch gaben sie ihrer Hoffnung auf einen zukünftigen unabhängigen, demokratischen ukrainischen Staat Ausdruck, in dem individuelles Bürgerrecht respektiert würde. Im Kapitel „Mögliche Formen des Widerstands“ (Možlivi formy oporu) propagierten sie „Verhaltensnormen für Ukrainer“, um einer geistigen und kulturellen Vernichtung des ukrainischen Volkes entgegenzuwirken. Im Kern ging es dabei um passiven Widerstand gegen die fortschreitende Russifizierung des Landes (z. B. ausschließliche Verwendung der Muttersprache, Verweigerung des Wehrdienstes oder einer Arbeitsaufnahme außerhalb der Ukraine). Empfohlen wurde außerdem die Achtung allgemein anerkannter ethischer und moralischer Normen. Verpönt waren Fluchen, Alkoholmissbrauch sowie der Erwerb von Luxusartikeln. Geld sollte nicht angehäuft werden, sondern wohltätigen Zwecken dienen. In ihrem Fazit konstatierten die Verfasser: „Man muss das Recht nicht brechen. Es reicht, die in der Verfassung der UdSSR verankerten Rechte auch wirklich zu nutzen.“

Im Oktober 1978 trat Tychy in einen Hungerstreik. Im April 1979 folgte ein weiterer, kam jedoch nach 17 Tagen aufgrund von Blutungen infolge eines Magengeschwürs ins Lagerkrankenhaus. Eine medizinische Behandlung wurde ihm hier zunächst verweigert, der Lagerkommandant bezeichnete ihn als Simulanten. Vor dem dann doch geplanten Eingriff drängte ihn der operierende Arzt, sich schriftlich von seinen früheren Aktivitäten zu distanzieren, woraufhin Tychy ihm Erpressung vorwarf. „Sie werden ein kurzes und qualvolles Leben haben“, soll der Arzt geantwortet haben. Nach der Operation kam es zu schweren Komplikationen. Die Ärzte plädierten dafür, Tychy aufgrund seines Gesundheitszustands für haftunfähig zu erklären, entsprechende Unterlagen verließen das Krankenhaus jedoch nicht. 1980 wurde Tychy zusammen mit anderen Gefangenen, die zu verschärften Haftbedingungen verurteilt worden waren, in die Permer Lager im Ural verlegt. 1983 verschlechterte sich Tychys Gesundheitszustand zusehends. Insgesamt dreimal kam er ins Gefängniskrankenhaus, wo er zweimal operiert wurde – zuletzt Anfang 1984.

Am 6. Mai 1984 starb Olexa Tychy im Gefängniskrankenhaus in Perm. Die Behörden lehnten es zu diesem Zeitpunkt ab, seinem Sohn Wolodymyr den Leichnam des Vaters zu übergeben. Erst am 19. November 1989 wurden die sterblichen Überreste von Olexa Tychy, zusammen mit denen von Wassyl Stus und Jurij Lytwyn, im Rahmen einer feierlichen Zeremonie auf dem Kiewer Baikowe-Friedhof beigesetzt.

Iryna Rapp
Aus dem Polnischen von Gero Lietz
Letzte Aktualisierung: 10/20