Geschichte der ukrainischen Opposition
Die Bemühungen um die nationale Selbstbestimmung des Landes waren ein prägender Aspekt in der Geschichte der Ukraine im 20. Jahrhundert. Immer wenn es schien, die nationale Befreiungsbewegung sei endgültig niedergeschlagen, erstand sie wie Phönix aus der Asche und schöpfte neue Kraft. Zwar setzte sich das sowjetische Regime formal gesehen für ukrainische Staatlichkeit (in Gestalt der Ukrainischen SSR) und ukrainische Nationalkultur ein, gleichwohl wurde die intellektuelle Elite des Landes seit den 30er Jahren gezielt bekämpft. Auf diese Weise wurde versucht, das Nationalbewusstsein der Ukrainer nachhaltig zu untergraben. Der Kollektivierung der Landwirtschaft im Zuge des ersten Fünfjahresplans, die einen Entzug der materiellen Grundlagen der einheimischen Bevölkerung bedeutete, widersetzten sich die ukrainischen Bauern besonders hartnäckig, was 1931 mit Massendeportationen in die östlichen Regionen der UdSSR geahndet wurde. Es folgte eine bewusst in Kauf genommene Hungersnot, der Holodomor, dem Millionen von Menschen zum Opfer fielen.
Die sowjetische Annexion der damals polnischen Westukraine im September 1939, verlieh der ukrainischen Nationalbewegung neuen Auftrieb. Die nationale Idee und der Traum von einem unabhängigen ukrainischen Staat war in dieser Region, die vor dem Ersten Weltkrieg zum Russischen Reich und zu Österreich-Ungarn und in der Zwischenkriegszeit zu Polen gehört hatte, über Generationen präsent, und der bewaffnete Widerstand hatte hier besonders lange Bestand.
Bereits vor dem Zweiten Weltkrieg war als wichtigste politische Kraft die Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) aktiv. Ihr Aktionsgebiet lag in der Westukraine, wo sie vor allem die polnischen Behörden bekämpfte und dabei zu offenem Terror griff. Die neue sowjetische Verwaltung war sich bewusst, dass nicht davon auszugehen war, dass die ukrainischen Nationalisten ihren Anweisungen ohne Weiteres Folge leisten würde. 1940–41 wurden führende OUN-Vertreter in der Westukraine verhaftet. Weitere Verhaftungen folgten auch nach der Besetzung der Ukraine durch die deutsche Wehrmacht im Sommer 1941. Der von Andrij Melnyk angeführte Teil der OUN kollaborierte mit den Nationalsozialisten, während sich der unter der Führung von Stepan Bandera stehende Teil gegen die Besatzer stellte, insbesondere nachdem die NS-Regierung eine Anerkennung der in Lemberg proklamierten Unabhängigkeit der Ukraine abgelehnt hatte. Die als militärischer Flügel der OUN 1942 gegründete Ukrainische Aufständische Armee (UPA) führte einen Partisanenkampf gegen die deutschen Machthaber und setzte diesen Kampf auch nach der erneuten Übernahme der Ukraine durch die UdSSR fort. Dabei kam es auch zu Kontroversen mit der polnischen Heimatarmee und zu Verbrechen insbesondere gegen die polnische und jüdische Zivilbevölkerung. Während Anfang der 50er Jahre der Partisanenkrieg in den ländlichen Gebieten nahezu zum Erliegen gekommen war, agierten in den Städten weiterhin Untergrundorganisationen. In der Ukraine wurden Angaben des KGB zufolge in den Jahren 1954–59 insgesamt 183 „nationalistische und antisowjetische Gruppierungen“ zerschlagen. 1.879 Personen wurden verurteilt, 245 davon stammten aus Intellektuellenkreisen oder aus dem Umfeld von Jugendinitiativen (insgesamt 46 Gruppen). Die Repressalien der Post-Stalinära erreichten in dieser Zeit ihren Höhepunkt.
Auch in den 50er und 60er Jahren war die nationale Bewegung vorrangig in der Westukraine aktiv. Hier agierte die Mehrheit der zwischen 1958 und 1969 aufgedeckten und in ihrer ideologischen Ausrichtung meist der OUN nahestehenden Untergrundorganisationen.
Es gab jedoch auch in der Illegalität agierende Strukturen (wie die 1961 enttarnte Ukrainische Arbeiter- und Bauernunion), die den bewaffneten Kampf ablehnten und gewaltfreie Methoden des Kampfes bevorzugten. Mit dem Aufkommen solcher Vorstellungen entstand in den 50er Jahren auch die ukrainische Dissidentenbewegung, in der sich die Nationalbewegung (als die größte und bedeutendste) sowie religiöse und weitere gesellschaftliche Bewegungen (krimtatarische Bewegung, Otkazniki) vereinten. Wie anderswo auch bediente man sich dabei immer häufiger öffentlicher Aktionsformen.
In den 60er und den frühen 70er Jahren dominierte in der ukrainischen Dissidentenbewegung die national-kulturelle Strömung. In der zeitgenössischen ukrainischen Literatur werden die Aktivisten dieser Bewegung oft als Generation der Sechziger bezeichnet. Dieser auf die Ukraine bezogene Terminus hat jedoch eine viel engere Bedeutung als der entsprechende für die gesamte sowjetische Kultur jener Zeit verwendete Begriff der „Šestidesjatniki“, der ein gesellschaftliches Phänomen beschrieb, das damals in Russland Gegenstand einer lebendigen Debatte war. Der Kern der ukrainischen Bewegung gehörte der schöpferischen Intelligenz des Landes an. Ihre wichtigsten Ziele waren die Wiedergeburt der nationalen Kultur der Ukraine und der Widerstand gegen die zunehmende Russifizierung des Landes.
Das Zentrum der Bewegung war zunächst Kiew, breitete sich jedoch nach und nach auf die gesamte Ukraine aus. Den Aktivisten ging es – zumindest mehrheitlich – nicht um eine Abspaltung der Ukraine von der UdSSR, vielmehr hegten sie die Hoffnung auf eine Liberalisierung des Systems und auf die Lösung der nationalen Frage innerhalb des Verbunds der UdSSR. Die Vertreter der Generation der Sechziger erlangten die Gunst der ukrainischen Nomenklatura und waren bis 1965 keiner strafrechtlichen Verfolgung ausgesetzt, viele ihrer Vertreter machten sogar erfolgreich Karriere. Allerdings war die Bewegung nicht homogen, vertreten waren alle politischen Strömungen. In der Generation der Sechziger unterschied man für gewöhnlich die „Kulturschaffenden“ (Vertreter aus Kunst und Kultur, die sich in moralischem Dissens gegenüber dem Regime befanden), und die „Politiker“ (deren Ziele und Aufgaben von Beginn an politischer Natur waren).
Am Ende der Tauwetterperiode unter Chruschtschow ging ein Teil der Generation der Sechziger zur offenen Konfrontation mit dem Regime über. Als in den Jahren 1963–65 ihre Werke nicht mehr im offiziellen Buchhandel erscheinen durften, wurden sie von ukrainischsprachigen Publikationen in Polen (die Wochenzeitschrift „Naše slovo“, das Jahrbuch „Ukrajins’kyj kalendar“), in der Tschechoslowakei (die Zeitschriften „Dukla“, „Družnio vpered“, „Narodnyj kalendar“) und im Westen (die Monatsschrift „Sučasnist‘“) gedruckt. Außerdem fanden sie im Samisdat Verbreitung. War der ukrainische Samisdat in der Anfangsphase vor allem literarisch-poetisch geprägt, gewann er ab 1963 recht rasch an politischer Radikalität. Zu Beginn erschienen anonyme oder mit Pseudonymen versehene Beiträge, in der zweiten Hälfte der 60er Jahre überwogen bereits öffentliche Meinungsäußerungen, Essays und Petitionen, die als Antwort auf Repressalien des Regimes entstanden. Der Samisdat wurde das grundlegende Forum der Bewegung der Generation der Sechziger und trug zur Konsolidierung einer nonkonformistischen Intelligenz bei.