Wie viele ihrer Generation, die in frühen Lebensjahren die NS-Diktatur erlebt hatten, wollte Elisabeth Graul nach 1945 mit jugendlicher Begeisterung beim Neuaufbau einer demokratischen, humanistischen Gesellschaft mitwirken. Doch als plötzlich wieder Menschen in ihrer thüringischen Heimatstadt spurlos verschwanden und der Widerspruch zwischen den SED-Parolen und der Realität unerträglich wurde, suchte sie Gleichgesinnte, um sich zu widersetzen. Sie fand sie beim „Widerstandskreis der Jugend der Sowjetzone“, der von West-Berlin aus den Widerstand junger Menschen in der DDR unterstützte und koordinierte – sehr sorg- und skrupellos, wie sich bald herausstellen sollte.
Elisabeth Graul, Jahrgang 1928, wuchs in Erfurt auf. Hier, später in Weimar und schließlich in West-Berlin studierte sie bis zu ihrer Verhaftung Musik. Bei aller Leidenschaft, mit der sie an einer Laufbahn als Pianistin arbeitete und trotz der Intensität, die die Arbeit an ersten literarischen Texten verlangte, blieb sie aufmerksam für die politische Entwicklung, die sich in der sowjetischen Besatzungszone abzeichnete. Immer wieder verschwanden plötzlich Menschen aus dem Freundes- und Bekanntenkreis, weil sie verhaftet wurden oder noch rechtzeitig in den Westen fliehen konnten. Als Studentin erlebte sie in Erfurt und Weimar die wachsende politische Indoktrination und Abstimmungen, deren Ergebnisse nur unter Drohungen zustande gekommen waren. Als sich 1950 die Gelegenheit bot, in West-Berlin das Studium weiterführen zu können, nutzte sie diese Chance.
Zwischen der sowjetischen Besatzungszone und den Westzonen, zwischen Ost- und West-Berlin wurden die Grenzübergänge zwar bereits kontrolliert, doch war Nachkriegsdeutschland noch längst kein mental und durch unüberwindbare Grenzen geteiltes Land. Man konnte in der sowjetischen Besatzungszone oder Ost-Berlin seinen Wohnsitz haben und gleichwohl in West-Berlin zur Schule, zur Universität oder zur Arbeit gehen. Auch wenn sie ab 1950 in West-Berlin studierte, blieb Graul ihrer alten Heimat und dem alten Freundes- und Bekanntenkreis verbunden. Sie behielt den Wohnsitz in Erfurt, besuchte regelmäßig ihre Freunde in der Stadt und erlebte am 15. Oktober 1950, mit welchem massiven Druck sie und die Bewohner ihres Hauses veranlasst wurden, an den Scheinwahlen zur Volkskammer teilzunehmen.
Was lag für einen jungen Menschen mit Widerspruchsgeist, der unter dieser Entwicklung litt, näher, als Kontakt zu Widerstandsgruppen aufzunehmen, die ihre legale Basis in den Westzonen bzw. West-Berlin hatten? Zufälligkeiten und Arglosigkeit führten dazu, dass Elisabeth Graul 1950 über einen Freund Kontakt zum „Widerstandskreis der Jugend der Sowjetzone“ aufnahm. Der Kreis war eine Nebenorganisation des von Paul Egon Lüth gegründeten „Bundes Deutscher Jugend“ (BDJ), einer nach außen als streng antitotalitär und antikommunistisch auftretenden bündischen Jugendorganisation mit einem eigenen illegalen Apparat, dem sogenannten „Technischen Dienst“, der von ehemaligen Wehrmachts- und SS-Angehörigen geführt wurde. Von der Existenz dieses geheimen Apparates erfuhr Elisabeth Graul allerdings erst nach ihrer Verhaftung. BDJ und Technischer Dienst wurden Ende 1952/Anfang 1953 auch in verschiedenen westdeutschen Bundesländern verboten.
Graul übernahm Kurierfahrten in die DDR, transportierte heimlich Flugblätter und beteiligte sich in West-Berlin an Pressekonferenzen zur Situation in Ostdeutschland. Doch bald geriet sie in Widerspruch zur Politik des BDJ und insbesondere zu Paul Lüth. Es waren nicht nur die Leichtfertigkeit, mit der die BDJ-Führung Leben und Freiheit junger Menschen aus der DDR aufs Spiel setzte, sondern die langsam erkennbaren und für sie untragbaren politischen Vorstellungen des BDJ. Später erklärte sie: „Bitter, denn auf gar keinen Fall hatten wir die Restaurierung des Vergangenen gewollt. Aber wir hatten Politik zu machen versucht, ohne auch nur die geringste Ahnung davon zu haben.“
Elisabeth Graul hatte bereits mit dem BDJ vor Wochen gebrochen, als sie 23-jährig im Sommer 1951 wegen ihrer Mitgliedschaft im „Widerstandskreis der Jugend der Sowjetzone“ von Mitarbeitern des Staatssicherheitsdienstes anlässlich eines Besuchs in ihrer Heimatstadt Erfurt verhaftet wurde. Es folgten lange Monate der Untersuchungshaft in der zentralen Untersuchungshaftanstalt des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) in Berlin-Hohenschönhausen, wo sie in fensterlosen Zellen unter der Erde eingesperrt war. Häftlinge prägten für diesen berüchtigten Zellentrakt den Begriff „U-Boot“. Nach endlosen nächtlichen Vernehmungen mit systematischem Schlafentzug wurde sie im Februar 1952 zusammen mit elf Gefährten vom Obersten Gericht der DDR unter Vorsitz der späteren Justizministerin Hilde Benjamin zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt; drei Mitangeklagte erhielten lebenslange Haftstrafen. Nahezu die gesamte Haftzeit von zehn Jahren verbrachte Elisabeth Graul in der Frauenhaftanstalt Hoheneck, bevor sie 1962 entlassen wurde.
Inzwischen stand die Mauer – an eine Flucht nach West-Berlin war nicht mehr zu denken. In Magdeburg, ihrem Wohnort nach der Entlassung, hatte sie das Glück, auf Menschen zu treffen, die das Wagnis eingingen, der als Staatsfeindin Abgestempelten beruflich zu helfen. Zunächst arbeitete sie 13 Jahre am dortigen Puppentheater und durfte später sogar Regie führen, schließlich wurde ihr zugestanden, als Klavierlehrerin an der Georg-Philipp-Telemann-Musikschule tätig zu werden. Nach dem Zusammenbruch des SED-Regimes konnte sie als Höhepunkt der 1951 so jäh abgebrochenen eigenen beruflichen Entwicklung erleben, dass eine ihrer Klavierschülerinnen die Ausbildung an der Juilliard School of Music in New York fortsetzte und eine erfolgreiche Laufbahn als Pianistin begann. Die Schülerin verwirklicht den Lebenstraum der Lehrerin.
Neben der Leidenschaft zur Musik galt Elisabeth Grauls zweite künstlerische Neigung der Literatur. Beide Passionen halfen, die schweren Haftjahre zu überstehen – eine lebensprägende Zeit, die sie nach dem Ende der SED-Diktatur in ihrem autobiografischen Bericht „Die Farce“ beeindruckend schildert. Deutlich wird in diesem Band ihre Lebensmaxime erkennbar: „Es ist nicht entscheidend, was man erlebt, sondern wie man es erlebt […].“ Gesundheitlich schwer angeschlagen, doch voller Energie, war sie auch nach 1990 vielfältig politisch aktiv und fand gleichzeitig noch Muße und Kraft, einfühlsame, poetische Gedichtbände zu schreiben und einen Roman zu vollenden, der 1999 erschienen ist. In ihrem Gedicht „Mein Credo“ schrieb sie:
„Solange ich mich regen kann,
werde ich mich zu Wort melden
gegen vergangenes Unrecht,
gegenwärtiges
und zukunftsträchtiges.
Ich frage nicht,
ob ich damit die Welt verändern kann […].“
Elisabeth Graul starb 2009 in Barleben bei Magdeburg.