Im Januar 1989 wurde Müller mit zehn weiteren Aktiven nach dem Verteilen von Flugblättern festgenommen. Sie hatten zu einer Demonstration für Meinungs-, Versammlungs-, Vereinigungs- und Pressefreiheit aufgerufen, die aus Anlass des Todestages von Rosa Luxemburg diesmal in Leipzig stattfand. Anders als im Vorjahr in Berlin wurden die Inhaftierten nach in- und ausländischen Protesten eine Woche später in die DDR freigelassen.

Die Leipziger Basisgruppen drängten mit fantasievollen Aktionen in den öffentlichen Raum. Zum Weltumwelttag 1988 war der „Pleiße-Gedenk-Marsch“ durch die Leipziger Innenstadt entlang des verseuchten und versiegelten Flusses Pleiße initiiert worden. Müller hatte sich auch hier engagiert. Beim zweiten Pleiße-Marsch 1989 kam es zu Festnahmen. Nach dem Nachweis der Fälschung der DDR-Kommunalwahlen im Mai 1989 durch die Opposition begannen Nichtwählerdemonstrationen. Am 10. Juni fand das von Jochen Läßig und Katrin Hattenhauer organisierte Straßenmusikfestival „Freiheit mit Musik“ statt. Immer wieder reagierte der Staat mit brutalen Festnahmen und empfindlichen Ordnungsstrafen. Zum Abschluss des Sächsischen Kirchentages im Juli demonstrierten Müller, Christoph Motzer und Kathrin Walther mit einem Transparent in deutscher und chinesischer Aufschrift für „Demokratie“; Anlass war das von der SED gutgeheißene Massaker auf dem Pekinger Platz des Himmlischen Friedens vom 4. Juni 1989. Seit dem sogenannten „Beat-Aufstand“ Jugendlicher im Jahr 1965 war dies die größte Demonstration in Leipzig, da sich rund 1.000 Kirchentagsbesucher angeschlossen hatten. Im Angesicht westlicher Journalisten blieben Festnahmen aus. Dass das von den Berlinern Katrin Hegewald und Stephan Weiß gefertigte Transparent gegen Wahlbetrug außerhalb des Kirchentagsgeländes gezeigt wurde, wusste der Rechtsanwalt und inoffizielle Stasi-Mitarbeiter Wolfgang Schnur zu verhindern.

Stetiger Treffpunkt war das montägliche Friedensgebet in der Leipziger Nikolaikirche. Unterstützung erhielten die Gruppen nur von wenigen Pfarrern wie Christoph Wonneberger, Klaus Kaden, Rolf-Michael Turek und dem Katholiken Hans-Friedrich Fischer. Als Superintendent Friedrich Magirius im Sommer 1988 die politisch motivierten Gruppen von der Gestaltung der Friedensgebete ausschloss, verteilte Müller Mundtücher mit der Aufschrift „Redeverbot“ und verlas zusammen mit Gesine Oltmanns, Thomas Rudolph, Jochen Läßig und anderen die Informationen auf dem Kirchvorplatz. Daraus entwickelte sich im Herbst 1988 für ein paar Wochen ein „Speakers Corner“. Im April 1989 durften sich die Gruppen wieder an den Friedensgebeten beteiligen, anschließende montägliche Demonstrationsversuche ab Mai endeten in Polizeikesseln.

Eine Woche nach der Demonstration zur Herbstmesse 1989 unter dem Motto „Für ein offenes Land mit freien Menschen“ reagierte der Staat mit massiven Verhaftungen (unter anderem von Katrin Hattenhauer und Carola Bornschlegel). Das löste eine Solidarisierungswelle auch in anderen Städten aus. Die in der Lukasgemeinde arbeitende Infogruppe um Thomas Rudolph, Kathrin Walther, Rainer Müller und Pfarrer Wonneberger organisierte Proteste und dokumentierte die brutalen Übergriffe des Staatsapparates bei den folgenden Montagsdemonstrationen, an denen immer mehr Menschen teilnahmen – am 25. September stieg die Teilnehmerzahl auf 8.000. Als es in Ost-Berlin und anderen Städten am 7. und 8. Oktober zu gewalttätigen Erniedrigungen festgenommener Demonstranten gekommen war und kommunistische Kampfgruppenkommandeure in der Presse am 9. Oktober in Leipzig mit der „chinesischen Lösung“ drohten, verfasste Müller mit anderen Leipzigern einen Aufruf, der von mehreren Oppositionsgruppen unterzeichnet wurde. Sie appellierten an die staatlichen Einsatzkräfte: „Reagiert auf Friedfertigkeit nicht mit Gewalt! Wir sind ein Volk!“ Leipziger Oppositionelle und Theologiestudenten verteilten etwa 20.000 dieser Flugblätter. Erst Wochen später verband sich mit dem gleichlautenden Ruf die Forderung nach der Einheit Deutschlands.

1990 gehörte Rainer Müller dem DDR-Sprecherrat der Initiative Frieden und Menschenrechte an, die 1991 im Bündnis ‘90 aufging. 1993 trat er mit anderen Leipzigern aus diesem mit den bundesdeutschen Grünen fusionierenden Bündnis aus und dem Neuen Forum bei.

Heute lebt Müller als Historiker mit seiner Partnerin und vier Kindern in Leipzig, wo er nach 1990 Mittelalterliche und Neuzeitliche Geschichte studiert hat. Er engagierte sich kommunal und landesweit für das Neue Forum, arbeitet bis heute in verschiedenen gesellschaftspolitischen Gruppen mit und leitet das IFM-Archiv Sachsen e. V., das die Geschichte des Widerstandes gegen die SED-Diktatur erforscht.

Gerold Hildebrand
Letzte Aktualisierung: 08/16