Der 20-jährige Stefan Weingärtner war bis zum 17. Juni 1953 noch ohne politische Vergangenheit. Er wurde am 22. Februar 1933 in Görlitz geboren und hatte noch zwei jüngere Geschwister. Seine Eltern waren geschieden. Die Mutter, eine Krankenschwester, zog die Kinder allein auf, der Vater lebte ab 1950 in Hannover. Stefan Weingärtner arbeitete bis zu seiner Verhaftung als Autoschlosser in der Firma Tesch in Görlitz.
Der technikbegeisterte Weingärtner stammte aus einem christlichen Elternhaus und nahm an den Veranstaltungen der Jungen Gemeinde teil, war aber, wie die meisten seiner Alterskameraden, auch in die FDJ eingetreten und ging als Mitglied der Gesellschaft für Sport und Technik (GST) im Klub junger Techniker seinem Hobby nach. Der 17. Juni 1953 sollte sein Leben und das seiner Angehörigen grundlegend verändern.
Als Stefan Weingärtner und seine Kollegen am Vormittag des 17. Juni 1953 erfuhren, dass die Arbeiter der Lokomotiv- und Waggonbau-Betriebe (LOWA) demonstrieren, schlossen sie sich sofort an. Sie nahmen Schraubenschlüssel und Blechscheren mit. Weingärtner beteiligte sich später an der Belagerung der Kreisdienststelle des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS). Er war auch dabei, als auf Anraten des SED-Kreissekretärs eine Delegation ins Gebäude gelassen wurde, um im Keller nach Gefangenen zu suchen. Der Kreissekretär sagte später aus, dass ihm ein Jugendlicher, den er nicht kannte und den er nur beschreiben konnte, Unterstützung leistete, als er ärztliche Hilfe benötigte. Weingärtner und andere Jugendliche brachten den verletzten SED-Kreissekretär und einen gleichfalls verletzten MfS-Mitarbeiter zum Arzt. Sowohl der Oberbürgermeister als auch der SED-Kreissekretär bestätigten die „guten Manieren“ der jungen Leute.
Weingärtner gehörte auch zu den Demonstranten, welche die Kreisdienststelle des MfS stürmten, ohne dass er sich durch besondere Gewalttätigkeiten hervorgetan hätte. Sein Pech bestand offensichtlich darin, dass er durch sein markantes Aussehen aufgefallen war. Er war sehr groß, trug eine starke Brille und eine schwarze Baskenmütze. Dadurch ragte er buchstäblich aus der Menge heraus.
Seine Festnahme erfolgte am Nachmittag während der Auflösung der Kundgebung auf dem Obermarkt. In einer Vernehmung durch die Staatssicherheit am gleichen Tag sagte er aus, dass ihn dort ein sowjetischer Offizier aufgefordert habe, mitzukommen. Offensichtlich hatte er zu jenen Jugendlichen gehört, die nach der Verkündung des Ausnahmezustandes den Platz nicht verlassen wollten und die sowjetischen Militärfahrzeuge mit ,,Johlen und Geheul“ empfingen. Er wurde zunächst ins Rathaus, dann zum Staatssicherheitsdienst und später zur sowjetischen Kommandantur gebracht.
Am 19. Juni 1953 verurteilte ihn ein sowjetisches Militärtribunal (SMT) als „einen der aktivsten Provokateure und Haupträdelsführer beim Putsch am 17. Juni 1953 in Görlitz“ zum Tode durch Erschießen. Doch Weingärtner und ein anderer; ebenfalls vom SMT zum Tode verurteilter junger Görlitzer, hatten „Glück im Unglück“. Die Todesurteile wurden nicht vollstreckt. Am 5. Oktober 1953 wurde er begnadigt und die Todesstrafe in 25 Jahre Arbeitslager umgewandelt. In einem „Auszug aus der Urteilsverkündung“ wurde als Grund festgehalten: „wegen der aktiven Beteiligung an den gegenrevolutionären Demonstrationen zum Sturz der DDR“. Am 4. Oktober 1956 wurde die Strafe „durch Gnadenentscheid des Präsidenten der DDR“ auf zehn Jahre herabgesetzt. Diese musste Weingärtner fast vollständig verbüßen. Er saß in Bautzen, Luckau und Torgau ein. Erst im Januar 1963 konnte er das Zuchthaus Torgau verlassen.
Wenn Weingärtner vor seiner Verhaftung ganz offensichtlich noch kein ausgewiesener „Feind“ der DDR war; vielleicht auch mehr aus Neugierde und jugendlichem Übermut in die Görlitzer Stasi-Zentrale eingedrungen war – durch die Verurteilung und die Erfahrungen im Zuchthaus wurde er zu einem bewussten Gegner des DDR-Regimes. Er galt als rebellischer Gefangener, der nicht bereit war, sich um eventueller Vorteile willen anzupassen. In den entsprechenden Führungsberichten wurde wiederholt vermerkt, dass seine Einstellung zur DDR „negativ“ sei, dass er immer noch „den Juniputsch verherrlicht“. Mehrfach verhängte man über ihn „Hausstrafen“, darunter Post- und Besuchssperren und zudem tagelangen strengen Arrest. Weil er sich nicht fügte und aus seiner Haltung zur DDR kein Hehl machte, behandelten ihn vor allem seine Aufseher in Torgau besonders hart. Er, der von einem sowjetischen Militärgericht zum Tode verurteilt worden war, empfand die Behandlung durch sowjetische Soldaten und Offiziere menschlicher als im DDR-Strafvollzug.
Die Konsequenz seiner Haltung war, dass er nach dem Tod des Staatspräsidenten der DDR Wilhelm Pieck im September 1960 im Unterschied zu vielen seiner Haftgefährten nicht begnadigt wurde.
Als er schließlich am 25. Januar 1963 entlassen wurde, hatten sich die DDR und auch Weingärtner verändert. Die SED-Führung hatte ihre Bürger einmauern lassen, womit es kaum eine Chance für den entlassenen Weingärtner gab, das Land zu verlassen. Er kehrte zunächst zu seinen Angehörigen nach Görlitz zurück. Die Kirche ermöglichte ihm eine Kur. Er bekam eine Arbeit zugewiesen, konnte diese jedoch aufgrund seiner angeschlagenen Gesundheit nicht aufnehmen.
Vom ersten Tag seines Lebens in Freiheit an stand Weingärtner unter der Beobachtung durch MfS und Volkspolizei. Man versuchte sogar, ihn für eine inoffizielle Tätigkeit zu gewinnen und nutzte sein Interesse für Technik für eine entsprechende Legende. Doch er durchschaute das Manöver, lehnte ab und bat darum, „von einer Zusammenarbeit abzusehen“.
Die Staatssicherheit schloss die „Möglichkeit der Vorbereitung einer Republikflucht nicht aus“, denn Weingärtner war im Frühjahr 1963 unter anderem im Hafen von Rostock und in Thüringer Grenzregionen beobachtet worden. Die Stasispitzel registrierten auch, dass er Ende 1964 mehrere Male zur ärztlichen Behandlung in die Charité nach Berlin fuhr. Von einer solchen Reise kam er nicht wieder nach Görlitz zurück. Seinen Spitzeln war entgangen, dass er nach West-Berlin flüchten konnte.
Bis zum Oktober 1970 versuchte das MfS vergeblich, unter dem Operativen Vorgang (OV) „Schleuse“ seinen Fluchtweg zu ermitteln. Im Abschlussbericht ist vermerkt: „Auf Grund seiner Vergangenheit und des Umstandes, dass sein Vater in Westdeutschland ist, kann angenommen werden, dass er nach West-Berlin geschleust wurde. In der Bearbeitung konnte der Fluchtweg und die Schleuserorganisation nicht ermittelt werden.“ Das MfS war außerdem darüber informiert, dass Weingärtner beim „Hilfskomitee für politische Häftlinge der sowjetischen Zone“ als politischer Häftling anerkannt worden war und wie viel Geld er als „Eingliederungshilfe“ erhalten hatte.
Stefan Weingärtner starb 1977 im Alter von 44 Jahren in Hannover. Zur Beerdigung durfte lediglich seine Mutter fahren, Schwester und Bruder erhielten keine Reisegenehmigung.