Thomas Kretschmer stammt aus Dornburg bei Jena, wo er am 18. Dezember 1955 geboren wurde. Sein Vater war Biologe, seine Mutter Horterzieherin. Er wurde katholisch erzogen und verweigerte 1970 die staatliche Jugendweihe, obwohl er Mitglied der Pionierorganisation und dann der FDJ war. Da er Arzt werden wollte, musste er das Abitur ablegen und entschied sich I972 für die damals mögliche Variante, eine Berufsausbildung mit Abitur abzuschließen. Noch im gleichen Jahr musste er die Schule verlassen, weil er aus der FDJ ausgetreten war und den Wehrdienst verweigern wollte. Daraufhin begann er eine Ausbildung zum Krankenpfleger. Anpassungszwänge und Indoktrination gab es jedoch auch hier. Das Gefühl von Ausweglosigkeit und unerträglicher Einengung wurde bei dem18-Jährigen immer stärker.
In dieser Situation versuchte Thomas Kretschmer im Juni 1973, in die Bundesrepublik zu fliehen. Er wurde jedoch gefasst und – da er noch nicht volljährig war – zu 15 Monaten Jugendhaft verurteilt. Im Gefängnis presste ihm das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) eine Verpflichtungserklärung zur Spitzeltätigkeit ab. Nach einigen fürs MfS verfassten Berichten entschied er sich jedoch, nicht weiter für die Staatssicherheit zu arbeiten und teilte dies seinen MfS-Führungsoffizieren noch im Gefängnis schriftlich mit. Er saß die Strafe ab und wurde Ende 1974 entlassen. Trotz neuerlicher Vorladung beim MfS blieb er bei seiner Entscheidung. Auch brach er die Schweigepflicht gegenüber seinen Freunden und wurde derart „dekonspiriert“ für die Staatssicherheit unbrauchbar. Mehr noch: Er berichtete bei jeder sich bietenden Gelegenheit von seinen Erfahrungen, um zu zeigen, dass man sich dem MfS verweigern könne.
Kretschmer nahm nach der Haftentlassung den Kontakt zur „Offenen Arbeit“ der evangelischen Kirche in Jena wieder auf. Diesen Kontakt hatte er bereits 1972 nach dem Verlassen der Schule geknüpft. Die „Offene Arbeit“, eine Einrichtung der sozialpädagogischen Jugendbetreuung, wurde von Jugenddiakon Thomas Auerbach betreut und gehörte zu den ersten dieser Art in der DDR. Sie war eine der Keimzellen der Jenaer Opposition. Sowohl Staat als auch Amtskirche sahen diese Versuche mit größtem Misstrauen und behinderten sie nach Kräften. Für Kretschmer aber war dieser Kontakt von großer Bedeutung: Er trug zu seinem Übertritt zum Protestantismus 1976 bei. Kretschmer arbeitete in der Krankenpflege und lebte in der „halblegalen“ Jugendszene in Jena. Nach vergeblichen Versuchen, wieder einen Ausbildungsplatz zu erhalten, konnte er schließlich 1976 am Erfurter Predigerseminar ein Theologiestudium beginnen.
Zwischenzeitlich hatte Kretschmer geheiratet und zog mit seiner Familie 1977 in ein Landpfarrhaus in die Nähe von Erfurt. Daraus entwickelte sich eine über Thüringen hinaus bekannte Anlaufstelle für Jugendliche nach dem Vorbild der Jenaer „Offenen Arbeit“. Dies führte neben seinem schwierigen Verhältnis zu den Autoritäten des Predigerseminars und seinen Eheproblemen dazu, dass er 1979 das Studium unterbrechen musste und ein Jahr im Gleisbau arbeitete. Amtskirche und Staatssicherheit verhinderten eine Wiederaufnahme des Studiums. Stattdessen wurde er zur Armee einberufen.
Jetzt verweigerte Kretschmer nicht nur den Wehrdienst an der Waffe, sondern den Wehrdienst insgesamt, woraufhin er im November 1980 verhaftet wurde. In der Untersuchungshaft kam er jedoch zu der Erkenntnis, dass es richtiger sei, nicht aus Prinzipientreue in Haft zu bleiben, sondern als Bausoldat in der Armee zu dienen, um andere junge Männer aufklären zu können. Nach sechs Wochen Untersuchungshaft und einer Verurteilung auf Bewährung kam er im Dezember 1980 als Bausoldat nach Leipzig und begann, sein Vorhaben umzusetzen. Er vertrat offensiv seine pazifistische Haltung, propagierte Solidarität mit der polnischen Solidarność und der sich in der DDR entwickelnden Friedensbewegung.
Kurz vor Ende seiner anderthalbjährigen Dienstzeit wurde Kretschmer deshalb Anfang 1982 erneut verhaftet, ins Stasi-Untersuchungsgefängnis nach Berlin gebracht und im Herbst 1982 zu viereinhalb Jahren verurteilt. Nach Durchlaufen von mehreren Haftanstalten kam er im Januar 1985 in die Abschiebehaft nach Karl-Marx-Stadt (Chemnitz), von wo zweimal wöchentlich Busse mit Haftentlassenen in die Bundesrepublik fuhren. Weder er noch seine Frau, der von der thüringischen Amtskirche das Haus gekündigt und vom Staat die Anmietung eines anderen verweigert wurde, hatten einen Ausreiseantrag gestellt. Trotz massiven Drucks und dem Angebot sofortiger Ausreise hielt Kretschmer bis Juli 1985 im Gefängnis aus. Schließlich kam er noch vor Ende der Haftzeit frei und durfte in der DDR bleiben: Verschiedene westdeutscher Prominenter – darunter der frühere Bischof Kurt Scharf – und Organisationen wie Amnesty International, wo Kretschmer „Gefangener des Jahres“ war, hatten sich für ihn eingesetzt.
Mit Hilfe von Staatssicherheit und Amtskirche wurde Kretschmer mit seiner Familie in einem ostthüringischen Dorf untergebracht, wo er eine Anstellung als Handwerker bei der Kirche erhielt. Er stellte alte Kontakte wieder her und verweigerte weiter jede Anpassung an staatliche Zwänge. Daneben verwirklichte er seine Liebe zur Holzschnitzerei und zum Bildhauen, beides hatte er sich selbst beigebracht.
Erst im Herbst 1989 wurde er noch einmal politisch aktiv. Kretschmer beteiligte sich an der Besetzung der örtlichen MfS-Dienststelle und anschließend im Bürgerkomitee zur Auflösung der Staatssicherheit in Thüringen. 1990–94 saß er im Kreistag des Kreises Lobenstein, war jedoch von der Parteipolitik im vereinigten Deutschland enttäuscht. Nach einer erfolglosen Kandidatur zum Landrat 1994 unter dem Slogan „Armut, Schönheit, Ungehorsam“ zog er sich aus der Politik zurück. Heute lebt Kretschmer als Holzbildhauer mit seiner Familie in der Nähe von Schleiz in Thüringen.
Zwei Grundsätze haben Kretschmer nach eigenem Bekunden bei wichtigen Entscheidungen geleitet. Den ersten hörte er von seiner Mutter: „Du bist frei, aber wenn du dich zu etwas bekennst, tue es bewusst.“ Der zweite stammt vom evangelischen Theologen Dietrich Bonhoeffer und lautet: „Keine Dummheit des Menschen ist größer als die, etwas nur um eines Prinzips willen zu tun.“ Wer sich wie Kretschmer diese Leitsätze zu Prämissen seines Handelns macht, ist wohl von keiner Diktatur zu besiegen.