Wolfgang Natonek wurde am 3. Oktober 1919 in Leipzig als Sohn des Schriftleiters und Schriftstellers Hans Natonek geboren. Nach vierjährigem Besuch der Grundschule wechselte er zu Ostern 1930 auf ein Real-Reformgymnasium, das er bis zum Abitur zu Ostern 1938 absolvieren konnte. Zu dieser Zeit hatte sein Vater das nationalsozialistische Deutschland bereits verlassen. Aus politischen Gründen ging er 1934 zunächst in dieTschechoslowakei, dann 1939 nach Frankreich, bis er 1941 die Vereinigten Staaten erreichte. Seine Frau und seine beiden Kinder, Sohn Wolfgang und eine Tochter, blieben in Leipzig, sie wurden nach der Ausbürgerung des Vaters für „staatenlos“ erklärt und lebten in sozialer Not. Das Vermögen des Vaters war beschlagnahmt worden.
Trotz aller widrigen Umstände konnte Wolfgang Natonek nach dem Abitur ein Studium der Veterinärmedizin an der Universität Leipzig beginnen. Er wollte Tierarzt werden, aber die politischen Verhältnisse zwangen ihn, sein Studium nach zwei Semestern abzubrechen. 1940 wurde er zum Kriegsdienst in einer Artillerie-Einheit der Wehrmacht einberufen, jedoch 1941 für „wehrunwürdig“ erklärt und entlassen. Das Kriegsende, das für ihn Befreiung hieß, erlebte er als Hilfsarbeiter in einem Leipziger Autoreparaturbetrieb. Es entsprach seiner antifaschistischen Gesinnung, dass er kurz vor Kriegsende gemeinsam mit anderen Arbeitern drei geflohene russische Kriegsgefangene in Leipzig bis zur Befreiung verbergen half – ein damals lebensgefährliches Wagnis. Zum frühestmöglichen Zeitpunkt, im Februar 1946, nahm er sein Studium an der Universität Leipzig wieder auf – entschied sich allerdings für die Fächer Germanistik, Anglistik und Zeitungswissenschaft.
Vor dem Hintergrund dieser Biografie konnte es für Natonek kein politisches Abseitsstehen geben. Bereits am 15. September 1945 trat er in Leipzig der Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands (LDPD) bei, einer bürgerlich-liberalen Partei, die damals von der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) noch nicht politisch gleichgeschaltet war. Folgerichtig gründete er an der Universität auch eine LDPD-Hochschulgruppe. Schließlich wurde er im Februar 1947 von einer Mehrheit der Leipziger Studenten als Vorsitzender des Studentenrates gewählt. Wie sehr er sich dem Erbe des antifaschistischen Widerstands verpflichtet fühlte, bewies er, als er zum fünften Jahrestag der Hinrichtung der Geschwister Hans und Sophie Scholl ihre öffentliche Ehrung an der Universität Leipzig einforderte. Beide, Studierende an der Münchner Universität, hatten gemeinsam mit gleichgesinnten Kommilitonen und Professoren die Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ gebildet. Sie wurden vom nationalsozialistischen Volksgerichtshof zum Tode verurteilt, weil sie Flugblätter gegen den Krieg verteilt hatten, und am 22. Februar 1943 hingerichtet.
Auf dem 2. Parteitag der LDPD 1947 in Eisenach umriss Natonek die Motive seines politischen Wollens mit den Worten: „Als wir nach einem sechsjährigen Krieg wieder an die Universitäten kamen, glaubten wir, dass nun endlich die Zeit angebrochen sei, dass wir uns wissenschaftlicher Arbeit hingeben könnten. Keiner hatte die Absicht, an der Universität Politik zu treiben, aber noch viel weniger, in eine Partei einzutreten. Wir sehen jedoch, dass es nötig ist, Parteipolitik zu treiben, damit wir nicht von einer anderen Partei majorisiert werden. Wir wissen, was auf dem Spiele steht.“ Es war eine kaum verschlüsselte Kampfansage an die SED, die Natonek – zumal nach seiner Wiederwahl als Studentenratsvorsitzender im Dezember 1947 – zunehmend als „Idol der reaktionären Studentenschaft“ öffentlich zu brandmarken begann. Die Auseinandersetzungen mit ihm waren keineswegs nur akademischer Natur. Vielmehr hatte der Studentenrat konkrete Mitwirkungsrechte bei der Zulassung zum Studium und bei der Vergabe von Stipendien, für die nach dem Willen der SED nicht die Begabung, sondern die politische Einstellung und soziale Herkunft entscheidend waren. Verbrieft ist Natoneks bitteres Bonmot, wonach es 1937 die „nicht-arische“ Großmutter gewesen wäre, die ein Studium verhindert habe, 1947 dagegen die „nicht-proletarische“ Großmutter.
Um seine Wiederwahl als Studentenratsvorsitzender zu verhindern, intrigierten die Leipziger Kommunisten mit der sowjetischen Besatzungsmacht. Natonek wurde in der Nacht vom 11. auf den 12. November 1948 von der sowjetischen Geheimpolizei festgenommen und in deren Gefängnis nach Dresden gebracht. In dem heute zugänglichen Haftbefehl wurde die Festnahme mit der Beschuldigung begründet, dass Natonek Mitglied einer illegalen Organisation sei und Handlungen gegen die Maßnahmen der Sowjetischen Militär-Administration unternehme. Zeitgleich wurden mindestens weitere zehn Studenten in Leipzig verhaftet.
Es war, wie die Untersuchungen ergaben, eine haltlose Beschuldigung, aber das änderte nichts daran, dass der weit über seine Vaterstadt hinaus populäre Studentenführer, ein glänzender Redner übrigens, am 30. März 1949 von einem sowjetischen Militärtribunal in Dresden nach Artikeln 17 und 58-6 des Strafgesetzbuches der RSFSR wegen angeblicher „Beihilfe zur Spionage“ zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt wurde. Bei seiner Einweisung in die Strafvollzugsanstalt Bautzen, die damals unter sowjetischer Verwaltung stand, lag vor Natonek ein Leidensweg von acht Jahren Zuchthaus. Auch als der Strafvollzug 1950 von der Volkspolizei der DDR übernommen wurde, unterblieb die Revision dieses Unrechtsurteils. Stattdessen fristete Natonek zunächst in Bautzen und später in Torgau ein Dasein als politischer Strafgefangener.
1956 „amnestiert“, verließ er nach kurzem Aufenthalt in Leipzig die DDR. Natonek, nun bereits im 37. Lebensjahr, fand die Kraft, noch einmal ein Studium zu beginnen. An der Universität Göttingen absolvierte er ein Studium der Germanistik und Pädagogik. Fast drei Jahrzehnte lang arbeitete er danach im Schuldienst – zuletzt als Fachleiter für Geschichte am Staatlichen Studienseminar in Göttingen. Die Universität Leipzig verlieh ihm 1992 den Titel eines Professors ehrenhalber.
Wolfgang Natonek starb am 21. Januar 1994 in Göttingen.