Russland

Andrei Amalrik

Andrei Amalrik, 1938–80

Andrej Alekseevič Amal’rik

Андрей Алексеевич Амальрик

Historiker, Publizist und Dramaturg. Autor des berühmten Essays „Wird die UdSSR das Jahr 1984 erleben?“ sowie erster Dissident, der offen Kontakte mit westlichen Journalisten und Diplomaten in Moskau pflegte und sie über die Menschenrechtsbewegung in der UdSSR informierte.

Andrei Amalrik wurde 1938 in Moskau geboren. Sein Vater war ein bekannter Historiker und Archäologe. Von 1962 bis 1963 studierte Amalrik an der Historischen Fakultät der Moskauer Universität, bis er wegen einer Jahresabschlussarbeit relegiert wurde, in der er die von der offiziellen sowjetischen Wissenschaft verworfene „Normannentheorie“ verteidigte, der zufolge das mittelalterliche Großreich der Kiewer Rus von skandinavischen Warägern gegründet worden sei. Als Sammler sowjetischer Avantgarde-Maler machte sich Amalrik einen Namen und lernte dadurch viele westliche Diplomaten und Journalisten kennen. Er schrieb Theaterstücke nach dem Vorbild des Absurden Theaters. Eine Auswahl seiner Dramen wurde später im Ausland herausgegeben und das Stück „Ost-West“ (Vostok–Zapad) am Amsterdamer Globustheater aufgeführt.

Am 14. Mai 1965 wurde Amalrik verhaftet und am 28. Mai 1965 vom Gericht des Moskauer Bezirks Frunse wegen sogenannten „parasitären Lebenswandels“ zu zweieinhalb Jahren Verbannung verurteilt. Die Verbannung verbrachte er im Gebiet Tomsk in Sibirien. Am 20. Juni 1966 wurde das Urteil durch den Obersten Gerichtshof der UdSSR revidiert. Von der weiteren Verbüßung der Strafe befreit, kehrte Amalrik nach Moskau zurück. Sein Leben in der Verbannung beschrieb er in dem Buch „Die ungewollte Reise nach Sibirien“ (Neželannoe putešestvie v Sibir‘). Danach wurde er freier Mitarbeiter der Presseagentur „Novosti“ (Nachrichten).

Als erster Dissident knüpfte Amalrik feste Kontakte zu ausländischen Korrespondenten. Eigenen Beschreibungen zufolge spielte Amalrik dabei die Rolle eines „Verbindungsoffiziers“ zwischen Dissidenten und westlichen Journalisten. Am Anfang waren diese Kontakte lediglich Ausdruck nonkonformistischen Verhaltens: „Ich wollte bei Ausländern zu Gast sein und sie zu mir einladen und mich gegenüber ihnen so verhalten, als ob wir ihnen gleich wären und sie uns […]. Im Grunde löste ich eine echte Revolution aus.“ Nach dem Prozess der Vier versuchte Amalrik, eine Pressekonferenz von Verwandten politischer Häftlinge für ausländische Korrespondenten zu organisieren. Wahrscheinlich war das der erste Versuch dieser Art überhaupt, allerdings wurde die Durchführung der Konferenz durch den KGB verhindert. Amalrik verfasste den Artikel „Ausländische Korrespondenten in Moskau“ (Inostrannye korrespondenty v Moskve) und beschrieb darin, wie die Behörden sich bemühten, deren Arbeit zu behindern.

Ab Juni 1968 half er Pawel Litwinow bei der Arbeit an dem Buch „Der Prozess der Vier“ (Process četyrioch). Nach Pawel Litwinows Verhaftung beendete Amalrik das Buch und übergab den Band im Oktober 1968 ausländischen Korrespondenten. Er gehörte zu den Personen, die das Essaymanuskript von Andrei Sacharow „Gedanken über Fortschritt, friedliche Koexistenz und geistige Freiheit“ (Razmyžlenia o progresse, mirnom sosušžestvovanii i intelekualnoj svobode) in den Westen brachten.

Ende 1968 kündigte ihm die Presseagentur „Novosti“, woraufhin Amalrik als Briefträger arbeitete.

Er befürwortete unabhängiges gesellschaftliches und politisches Engagement in organisierter Form. Im Frühjahr 1969 trat er mit einer Initiative zur Gründung einer sowjetischen Demokratiebewegung hervor und bereitete sogar den Entwurf eines Aufrufes vor.

Von April bis Juni 1969 schrieb Amalrik auf Bitten eines ihm bekannten amerikanischen Journalisten den Essay „Wird die UdSSR das Jahr 1984 erleben?“ (Prosuščestvuet li Sovetskij Sojuz do 1984 goda?), in dem er seine Sicht auf die nähere Zukunft der UdSSR darlegte. Er glaubte nicht an die Dauerhaftigkeit des sowjetischen Regimes, aber auch eine hypothetische, postsowjetische Zukunft sah er in schwarzen Farben. Aufgrund der Schwäche der im Inland existierenden liberalen demokratischen Opposition zweifelte Amalrik an den Möglichkeiten demokratischer Veränderungen. Seine Thesen unterlegte er mit einer Analyse sowohl der Anzahl der gesellschaftlichen Zusammensetzung als auch der politischen Ansichten der Teilnehmer der Protestwelle des Jahres 1968.

Sein Text, der Ende 1969 im Ausland veröffentlicht und in viele Sprachen übersetzt wurde, machte Amalrik international bekannt. Die ungewöhnlich scharfe Darstellung des Problems, wie es im Titel zum Ausdruck kam, in Verbindung mit dem analytischen, betont akademischen Stil der Darstellung, der dem Charakter westlicher Expertenberichte über die Sowjetunion entsprach und diesen wahrscheinlich auch parodierte, hoben den Aufsatz gegenüber anderen unabhängigen Veröffentlichungen dieser Jahre ab. Der Essay rief zahlreiche Reaktionen in der westlichen Presse und eine heftige Debatte im Samisdat hervor.

Andrei Amalrik verfasste weitere Artikel im Selbstverlag. Am berühmtesten wurde der bereits erwähnte Artikel über die westlichen Korrespondenten in Moskau vom Frühjahr 1970 sowie der „Offene Brief an Anatoli Kusnezow“ (Otkrytoe pismo Anatoliju Kusnecovu) vom November 1969, eine Polemik gegen die öffentliche Stellungnahme des bekannten sowjetischen Schriftstellers, der 1968 im Ausland geblieben war. Kusnezow hatte behauptet, dass in der UdSSR völlige Unfreiheit herrsche, womit Amalrik nicht übereinstimmte: Die Gewähr jeder äußeren Freiheit sei „innere Freiheit […,] bei der der Staat vieles mit dem Menschen tun kann, aber nicht in der Lage ist, ihm seine moralischen Werte zu nehmen.“

Zwischen 1968 und 1970 wurde Amalrik mehrfach festgenommen und durchsucht. Am 21. Mai 1970 wurde er verhaftet und nach Swerdlowsk gebracht, wo das Untersuchungsverfahren stattfand und die Verhandlung vorbereitet wurde. Der Prozess gegen Amalrik fand vom 11. bis 12. November 1970 statt. Amalrik wurde wegen der Erstellung und Verbreitung von Texten und Interviews angeklagt. Der zweite Angeklagte war der Ingenieur Lew Uboschko aus Swerdlowsk im Osten der Ukraine, dem vorgeworfen wurde, die Texte von Amalrik verbreitet zu haben.

Amalrik gestand keine Schuld ein und verweigerte es, sich am Gerichtsprozess zu beteiligen. Im Schlussplädoyer sagte er: „Während man den mittelalterlichen Kampf gegen häretische Ideen zum Teil mit religiösem Fanatismus erklären kann, kann man alles, was heute geschieht, einzig und allein mit der Feigheit des Regimes erklären, das die Gefahr der Verbreitung jeglicher Gedanken und Ideen, die der bürokratischen Obrigkeiten fremd sind, spürt. […] Es ist diese Angst vor den von mir ausgesprochenen Gedanken, vor den Fakten, die ich in meinen Büchern aufgreife, die diese Menschen dazu zwingt, mich wie einen kriminellen Verbrecher auf die Anklagebank zu bringen. Diese Angst hat solche Ausmaße angenommen, dass sie sich sogar fürchten, mich in Moskau vor Gericht zu stellen und mich stattdessen hierher gebracht haben, weil sie hoffen, dass mein Prozess weniger Aufmerksamkeit erregen wird. […] Meine Bücher werden nicht aufgrund der ordinären Beschimpfungen schlechter, mit denen sie hier bedacht werden. Meine hier zum Ausdruck gebrachten Ansichten sind nicht deshalb weniger zutreffend, weil ich ihretwegen einige Jahre im Gefängnis sitzen werde. Im Gegenteil, das kann mich in meinen Überzeugungen nur bestärken. […] Weder die durch das Regime veranstaltete ‚Hexenjagd’, noch dieser Prozess als ein einzelner Beweis dafür wecken in mir den geringsten Respekt und lösen keine Angst aus. Ich verstehe im Übrigen, dass solche Gerichtsverfahren dafür gemacht werden, um viele Menschen einzuschüchtern. Und viele lassen sich auch einschüchtern. Trotzdem denke ich, dass der begonnene Prozess der geistigen Befreiung unumkehrbar ist.“

Das Gericht verurteilte Amalrik nach Artikel 190, Paragraf 1 Strafgesetzbuch der RSFSR zu drei Jahren Haft mit strengem Vollzug. Die Strafe verbüßte er im Gebiet Nowosibirsk in Westsibirien und bei Magadan an der Küste des Ochotskischen Meeres. Am 21. Mai 1973 – dem letzten Tag seiner Lagerhaft – eröffnete die Staatsanwaltschaft der Stadt Magadan gegen Amalrik ein neues Verfahren nach dem gleichen Strafrechtsartikel. Am 18. Juli wurde er erneut zu drei Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Nach Verkündigung des Urteils begann Amalrik einen Hungerstreik, den er 117 Tage durchführte. Im November 1973 wandelte das Oberste Gericht der UdSSR die Strafe in drei Jahre Verbannung um. Diese Strafe verbüßte Amalrik in Magadan. Am 4. Dezember 1973 erhielt er den Freiheitspreis der New Yorker Freedom-House-Stiftung. Im Mai 1975 kehrte Amalrik nach Moskau zurück und am 15. Mai des folgenden Jahres verließ er die Sowjetunion.

Amalrik war im Exil gesellschaftlich und politisch sehr aktiv, veröffentlichte in den Zeitschriften „Kontinent“, „Kowčeg“ und „Sintaksis“ (Paris). Er schrieb einen weiteren Band mit Erinnerungen unter dem Titel „Aufzeichnungen eines Dissidenten“ (Zapiski dissidenta), der 1982 posthum herausgegeben wurde. Andrei Amalrik starb 1980 bei einem Verkehrsunfall im spanischen Guadalajara und wurde in Paris beerdigt.

Dmitri Subarew, Gennadi Kusowkin
Aus dem Polnischen von Tim Bohse
Letzte Aktualisierung: 01/16