Ukraine

Nadija Switlytschna

Nadija Switlytschna, 1936–2006

Nadija Svitlyčna

Надія Світлична

Philologin, Journalistin, Menschenrechtsaktivistin, politische Gefangene. Mitglied der Auslandsvertretung der Ukrainischen Helsinki-Gruppe, Redakteurin des Bulletins „Visnyk represij v Ukrajini“.

Nadija Switlytschna wurde 1936 in dem Dorf Polowynkyne (Polowinkino) im Gebiet Luhansk (Lugansk) in einer Kolchosbauernfamilie geboren. Sie war die Schwester von Iwan Switlytschnyj. 1958 schloss sie ihr Studium der Ukrainischen Philologie an der Universität Charkiw (Charkow) ab und arbeitete dann als Lehrerin und Bibliothekarin.

Als Direktorin einer Schule der Arbeiterjugend in Krasnodon (heute: Sorokyne) protestierte Switlytschna gegen die faktische Abwertung der ukrainischen Sprache, die sich beispielsweise darin äußerte, dass ein „Ungenügend“ in diesem Fach staatlicherseits nicht mehr als Versetzungshindernis angesehen wurde. Sie arbeitete als Bibliothekarin, bevor sie 1964 nach Kiew zog, wo sie zunächst eine Stelle an einem landwirtschaftlichen Berufskolleg fand. Sie war als Redakteurin in dem Verlag „Radjans’ka škola“ (Sowjetische Schule) tätig, wurde wissenschaftliche Mitarbeiterin am Pädagogischen Institut und arbeitete als Lehrerin an einer Abendschule in Darnyzja bei Kiew.

Gemeinsam mit ihrem Bruder, Iwan Switlytschnyj, engagierte sich Switlytschna im Klub der schöpferischen Jugend. Sie pflegte freundschaftliche Kontakte zu vielen späteren Dissidenten, besonders zu Alla Horska. Am 1. April 1966 sandte sie ein Telegramm an das Präsidium des XXIII. Parteitages der KPdSU. Darin setzte sie sich für ihren Bruder ein, der im August 1965 verhaftet worden war. Im November 1967 richtete sie gemeinsam mit ihrem Bruder Iwan Switlytschnyj, Iwan Dsjuba und Lina Kostenko einen Protestbrief an Petro Schelest, den Ersten Sekretär der Kommunistischen Partei der Ukrainischen SSR, in dem sie Wjatscheslaw Tschornowil unterstützten und auf die Verletzung grundlegender rechtlicher Prinzipien im Zusammenhang mit dem Prozess gegen ihn hinwiesen.

Gemeinsam mit Jewhen Swerstjuk fand sie im Dezember 1970 in Wassylkiw bei Kiew die Leiche ihrer ermordeten Freundin Alla Horska. Sie bereitete deren Beisetzung vor und sorgte für die Errichtung eines Grabsteins.

Auf Betreiben des KGB hatte Switlytschna bereits 1968 ihre Arbeit am Pädagogischen Institut aufgeben müssen. Im Zusammenhang mit den Ermittlungen gegen ihren Bruder im Zuge der Zweiten Verhaftungswelle wurde sie vom KGB fast täglich zum Verhör vorgeladen und schließlich am 18. April 1972 verhaftet. Außer ihr kam an diesem Tag auch Iwan Dsjuba in Haft, und es gab eine Reihe von Wohnungsdurchsuchungen, so auch bei Switlytschna. Beschlagnahmt wurden unter anderem die Bücher „Phänomen der Epoche“ (Fenomen doby) von Wassyl Stus und „Katarakt“ (Bil‘mo) von Mychajlo Oysadtschij, Werke von Abdurachman Awtorchanow, das Manuskript der Memoiren von Danyl Schumuk sowie zahlreiche Gedichte, Artikel, Zeitungsausschnitte, Briefe – insgesamt 1.800 konfiszierte „Einheiten“. Von Switlytschna verlangte man schriftlich festzulegen, wem sie das Sorgerecht für ihren zweijährigen Sohn übertrug. In den der Verhaftung vorausgegangenen Verhören war er immer wieder als „Argument“ angeführt worden, weshalb sie besser kooperieren solle. Zunächst in einem Kinderheim unweit von Kiew untergebracht, war es den Bemühungen der Schwägerin Leonida Switlytschna zu verdanken, dass das Kind schließlich zur Großmutter kam.

Switlytschna verbrachte fast ein Jahr im Kiewer KGB-Gefängnis. Vorgeworfen wurde ihr die Aufbewahrung und Verbreitung von Samisdat-Erzeugnissen. Laut Vernehmungsprotokoll bekundete sie: „Meine Schuld sehe ich darin, dass ich – trotz Hochschulabschluss und einer gewissen Lebenserfahrung – Gesetzen Glauben geschenkt habe, die einander widersprechen.“ Das Bezirksgericht Kiew verurteilte sie am 2. April 1973 nach Artikel 62, Paragraf 1 Strafgesetzbuch der USSR (entspricht Artikel 70, Paragraf 1 Strafgesetzbuch der RSFSR) zu vier Jahren Freiheitsentzug.

Im Mai 1976 kehrte Switlytschna aus den mordwinischen Lagern nach Kiew zurück, wo sie sich jedoch weder polizeilich anmelden konnte noch eine Stelle fand. Ihr wurde mit erneuter Haft wegen „Schmarotzertums“ gedroht. Gemeinsam mit ihrem Sohn wohnte sie bei ihrer Schwägerin Leonida Switlytschna, die immer wieder mit Geldstrafen wegen „Verletzung der Meldevorschriften“ belegt wurde. Aus Protest gegen die Verfolgung von Lewko Lukjanenko, Pjotr Grigorenko, Wjatscheslaw Tschornowil, Wassyl Stus, Stefanija Schabatura und weiteren Oppositionellen erklärte sie am 10. Dezember 1976 in einem Schreiben an das ZK der Kommunistischen Partei der Ukrainischen SSR und an die Regierung ihren Verzicht auf die Staatsbürgerschaft der UdSSR. Darin hieß es: „Es ist unter meiner Würde, Bürgerin des größten, mächtigsten und perfektesten Konzentrationslagers der Welt zu sein.“ Eine Kopie des Briefes schickte sie an die Ukrainische Helsinki-Gruppe. Am 12. Januar 1977 sandte sie ein gleichlautendes Schreiben auch an das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR. Nach ihrer Heirat im selben Jahr konnte sich polizeilich anmelden und fand eine Stelle als Hausmeisterin in einem Kindergarten, die sie jedoch nach dem nächsten Verhör wieder verlor. Am 30. Dezember 1977 wurde auf Grundlage des Dekrets des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 25. Dezember 1972 eine Verwarnung gegen sie ausgesprochen. Im März 1978 trat sie als Zeugin im Prozess gegen Mykola Matusewytsch und Myroslaw Marynowytsch auf. In den Berichten an das ZK der ukrainischen KP hieß es, sie habe versucht, „den Gerichtssaal als Bühne für antisowjetische Agitation und Propaganda zu nutzen“.

Switlytschna wurde Mutter eines zweiten Sohnes. Am 12. Oktober 1978 konnte sie zunächst nach Rom ausreisen und erreichte am 8. November 1978 die USA, wo sie fortan lebte. Acht Jahre später wurde ihr die sowjetische Staatsangehörigkeit aberkannt.

In den USA arbeitete Switlytschna als Übersetzerin an der Harvard University. Ab 1980 war sie in der Auslandsvertretung der Ukrainischen Helsinki-Gruppe aktiv, deren Informationsbulletin sie redigierte. Informationen über Verfolgungsmaßnahmen und Repressionen in der Ukraine veröffentlichte sie im „Visnyk represij v Ukrajini“, der ab 1985 – finanziert durch die ukrainische Diaspora – regelmäßig erschien. In den Jahren 1983–94 war sie auch für die ukrainische Sektion von Radio Liberty tätig. Texte und Materialien, die aus sowjetischen Straflagern nach außen gelangten, entschlüsselte sie und veröffentlichte die Inhalte in Broschüren und Büchern. Auch die Veröffentlichung des Gedichtbandes „Palimpseste“ (Palimpsesty) von Wassyl Stus wurde von ihr betreut.

Während des Hungerstreiks der Kiewer Studenten im Oktober 1990 reiste sie in die Ukraine und besuchte die Protestierenden täglich. Sie engagierte sich im Ukrainischen Museum in New York und war Redakteurin der ukrainischen Frauenzeitschrift „Vira“. Gemeinsam mit ihrer Schwägerin arbeitete sie an der Veröffentlichung der Memoiren und Schriften ihres Bruders Iwan Switlytschnyj mit. Für ihr Engagement wurde Switlytschna mehrfach ausgezeichnet, posthum erhielt sie den ukrainischen Tapferkeitsorden Erster Klasse.

Nadija Switlytschna starb am 8. August 2006 in den USA. Sie wurde auf dem Kiewer Baikowe-Friedhof beerdigt.

Sofija Karasnyk
Aus dem Polnischen von Gero Lietz
Letzte Aktualisierung: 10/20