Ukraine

Wassyl Stus

Wassyl Stus, 1938–85

Vasyl′ Stus

Василь Стус

Dichter, Kritiker und Publizist, Samisdat-Autor, Mitglied der Ukrainischen Helsinki-Gruppe. Zweimal aus politischen Gründen inhaftiert, in Lagerhaft verstorben.

Wassyl Stus wurde 1938 in dem Dorf Rachniwka (Gebiet Winnyzja) geboren. 1940 zog seine Familie nach Stalino (heute: Donezk), wo sein Vater eine Stelle als Arbeiter fand. 1959 schloss Stus sein Studium an der Historisch-Philologischen Fakultät des Pädagogischen Instituts in Stalino ab. Er unterrichtete zunächst ukrainische Sprache und Literatur an einer Schule im Gebiet Kirowohrad und leistete in den zwei darauffolgenden Jahren seinen Militärdienst im Ural ab. Danach arbeitete er als literarischer Redakteur der Zeitung „Socjalističeskij Donbass“.

Ab 1963 war Stus Promotionsstudent im Fach Literaturtheorie am Literaturinstitut Taras Schewtschenko der Akademie der Wissenschaften der Ukrainischen SSR und arbeitete ab 1964 im Zentralen Historischen Staatsarchiv. 1969 beschrieb er diese Zeit folgendermaßen: „Die Jahre nach meiner Entlassung vom Militär waren eine Zeit der Dichtung, die Zeit Pasternaks, den ich grenzenlos verehrte. Heute schätze ich besonders Goethe, Swidsinsky und Rilke. Ganz hervorragend sind auch die Italiener (soweit ich sie kenne) – besonders Ungaretti und Quasimodo. Ich mag auch die ‚dichte‘ Prosa von Tolstoi, Hemingway, Stefanyk, Proust, Camus, Faulkner. [...] Ich halte mich nicht für einen Poeten. Ich bin ganz einfach jemand, der Gedichte schreibt. Einige davon sind – wie ich meine – ganz gut gelungen.“ 1965 heiratete Stus, 1966 wurde sein Sohn Dmytro geboren.

Am 4. September 1965 schloss sich Stus der Protestaktion bei der Vorführung des Films „Feuerpferde“ von Sergei Paradschanow an. Nach einem Redebeitrag von Iwan Dsjuba über die Verhaftungen von Intellektuellen, forderte Wjatscheslaw Tschornowil die Anwesenden auf: „Wer gegen die Tyrannei ist, stehe auf!“ Als Erster erhob sich Stus. Wegen der Teilnahme an dieser Aktion wurde er zwangsexmatrikuliert und verlor dann auch seine Anstellung im Archiv. Er verdiente seinen Lebensunterhalt beim Bau der Metro, arbeitete als Heizer und bereitete in einem Konstruktionsbüro technische Informationen auf.
Literarisch war diese Zeit für Stus sehr fruchtbar: Er verfasste Gedichte, Übersetzungen, Kritiken und Prosastücke. 1965 versuchte er, seinen ersten Gedichtband „Wirbel“ (Kruhovert) zu veröffentlichen. Dem Verlag missfielen jedoch die Ästhetik und gesellschaftliche Haltung der Texte. Auch sein zweiter Gedichtband „Winterbäume“ (Zymovi dereva) wurde ungeachtet der positiven Begutachtung durch den Dichter Iwan Dratsch und den Literaturkritiker Jewhen Adelheim abgewiesen. 1970 erschien der Band in Belgien.

Stus protestierte entschieden gegen das Wiedererstarken des Personenkults, die Politik der Entnationalisierung und die Einschränkung der Meinungsfreiheit. Im April 1968 war er Mitunterzeichner des „Briefes der 139“ an Leonid Breschnew, in dem die Unterzeichner ihre Solidarität mit verurteilten Intellektuellen erklärten. Ende 1968 setzte sich Stus in einem Brief an das Präsidium des Ukrainischen Schriftstellerverbands für Wjatschelaw Tschornowil ein. In einem Schreiben an den Redakteur der Monatsschrift „Vitčyna“ Lubomyr Dmyterko kritisierte er 1969 in aller Schärfe dessen Äußerungen gegen Iwan Dsjuba. In einem offenen Brief an das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Ukraine, den KGB und den Obersten Sowjet der Ukraine legte er 1970 die verhängnisvollen Folgen einer Politik der Verletzung von Meinungsfreiheit und Menschenrechten dar.

Nach der Verhaftung von Nina Strokata-Karawanska in Odessa im Dezember 1971 entschlossen sich die ukrainischen Dissidenten zur Gründung einer legal agierenden Menschenrechtsorganisation nach Vorbild der Moskauer Initiativgruppe zur Verteidigung der Menschenrechte in der UdSSR. Auch Stus wurde Mitglied des Gesellschaftlichen Komitees zur Verteidigung von Nina Strokata. Am 12. Januar 1972 wurde er verhaftet und der „antisowjetischen Agitation und Propaganda“ bezichtigt. Vorgeworfen wurde ihm die Autorenschaft von 14 Gedichten und 10 weiteren Beiträgen zur Literatur und zur Verteidigung von Recht und Gesetz, darunter der Essay „Ein Phänomen der Zeit“ (Fenomen doby) über das Schaffen von Pawlo Tytschyna, der sein großes Talent in den Dienst der Kommunistischen Partei gestellt hatte. Gegenstand der Anklage war auch sein 1970 im Samisdat erschienener Gedichtband „Fröhlicher Friedhof“ (Veselyj cvyntar) mit „verleumderischen Aussagen gegen die Jubiläumsfeierlichkeiten der KPdSU zum 100. Geburtstag des Gründers des Sowjetstaates“. Die Ermittlungen sollten insbesondere beweisen, dass die oppositionell eingestellte Intelligenz intensive Kontakte zu nationalistischen ukrainischen Organisationen im Ausland unterhielt. Stus wurde am 7. September 1972 vom Bezirksgericht Kiew nach Artikel 62, Paragraf 1 Strafgesetzbuch der Ukrainischen SSR (entspricht Artikel 70, Paragraf 1 Strafgesetzbuch der RSFSR) zu fünf Jahren Lagerhaft und drei Jahren Verbannung verurteilt.

Seine Haft trat Stus in den mordwinischen Lagern an. Ein unbehandeltes perforiertes Magengeschwür brachte ihn im Herbst 1975 in Lebensgefahr. Statt der notwendigen Operation in einer Leningrader Spezialklinik wurde er zu „prophylaktischen“ Gesprächen zunächst nach Kiew gebracht. Erst am 10. Dezember wurde er im Leningrader Haftkrankenhaus operiert. Am 6. Februar 1976 kam er ins Lager zurück. Sein Mitgefangener Michail Chejfez beschrieb seine Persönlichkeit wie folgt: „Er war stolz und ehrenhaft wie der chinesische Kaiser [...] Mit den Kommandanten und Milizionären sprach er im Ton des Siegers und des Anklägers eines zukünftigen Nürnberger Prozesses. Sie waren für ihn Verbrecher, über die er Fakten sammelte, um dem Gericht wahre, wenn auch nicht ganz unvoreingenommene Informationen zur Verfügung stellen zu können.“ Er war bei allen Aktionen der politischen Gefangenen dabei, trat als Zeichen des Protestes in den Hungerstreik, verfasste und unterzeichnete Briefe und Aufrufe. In seinem Brief vom 1. September 1976 an das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR erklärte er seinen Verzicht auf die sowjetische Staatsbürgerschaft, denn seine Rechte, so Stus, würden „in unverschämter Weise“ verletzt.

Immer wieder fanden Durchsuchungen bei ihm statt, bei denen man seine Gedichte beschlagnahmte. Anfangs konnte er einige Texte in Briefen an seine Frau aus dem Lager schleusen, später gelang das jedoch nicht mehr. In einem Schreiben an den PEN-Club vom 11. September 1976 bat er darum, sich mit der ganzen Autorität der Organisation, für die Rettung seines literarischen Schaffens (lyrische Gedichte sowie Übersetzungen von Hunderten Gedichten Goethes und Rilkes) einzusetzen, die von der Lagerleitung beschlagnahmt worden waren. Grund war die Annahme, „dass lyrische Texte allein schon durch den Aufenthalt des Autors im Gefängnis politische Bedeutung erlangen können“. Im Januar 1977 erreichte Stus seinen Verbannungsort Matrosowo im Gebiet Magadan. Dort war er zusammen mit ehemaligen Straftätern in einem Arbeiterwohnheim untergebracht, die Anmietung eines Zimmers war ihm nicht gestattet. Infolge eines Unfalls lag er zwei Monate im Krankenhaus. In dieser Zeit gingen viele Bücher und Manuskripte verloren. Die Lokalzeitung verbreitete verleumderische Artikel über ihn.

1978 wurde Stus in den PEN-Klub aufgenommen und konnte im August 1979 aus der Verbannung nach Kiew zurückkehren. Er fand Arbeit in einer Gießerei und in einer Schuhfabrik. Er setze sich für die verfolgten Mitglieder der Ukrainischen Helsinki-Gruppe ein, der er sich im Oktober 1979 auch selbst anschloss. In seinen „Lagernotizen“ (Z taborovoho zošyta, 1983) beschrieb Stus diesen Schritt folgendermaßen: „Ich bin eingetreten […], weil ich nicht anders konnte. […] Im Unterbewusstsein wusste ich natürlich, dass sich das Gefängnistor bereits vor mir geöffnet hatte und sich alsbald hinter mir schließen würde, und das für lange Zeit. Aber was sollte ich denn tun? […] Trotz allem wollte ich mich nicht beugen. Hinter mir stand die Ukraine, ihr geknechtetes Volk, dessen Ehre ich bis zum Tode verteidigen muss.“

Am 14. Mai 1980 wurde Stus erneut verhaftet. Zur Last gelegt wurden ihm Briefe an Andrei Sacharow, Lewko Lukjanenko, Pjotr Grigorenko und an Freunde in Kiew, eigene Gedichte, eine von ihm verfasste Petition für Mykola Horbal sowie mündliche Äußerungen. Am 2. Oktober 1980 verurteilte ihn das Kiewer Bezirksgericht nach Artikel 62, Paragraf 2 Strafgesetzbuch der Ukrainischen SSR (Artikel 70, Paragraf 2 Strafgesetzbuch der RSFSR) zu zehn Jahren Lager mit besonderem Vollzug und zu fünf Jahren Verbannung. Er wurde als „besonders gefährlicher Rückfalltäter“ eingestuft. Am 19. Oktober 1980 sandte Andrei Sacharow in Sachen Wassyl Stus einen Brief an die Teilnehmer der KSZE-Folgekonferenz in Madrid.

Stus kam diesmal in den Lagerkomplex der Permer Lager. Ungeachtet der schweren Haftbedingungen schrieb und übersetzte er viel. Insgesamt 250 eigene Gedichte und 250 Übersetzungen sollten in ein Buch mit dem Titel „Vogel der Seele“ (Ptach duši) einfließen. Über den Verbleib der sofort konfiszierten Texte ist bis heute nichts bekannt. Von offizieller Seite erhielt die Familie die Auskunft, die Werke seien bei der Auflösung des Lagers zerstört worden. 1983 gelang es Stus, seine Textsammlung „Lagernotizen“ aus dem Lager zu schleusen. Nach der Veröffentlichung des Manuskripts im Westen und insbesondere nach Stus‘ Nominierung für den Literaturnobelpreis auf Initiative von Heinrich Böll, verstärkten sich die Repressalien gegen den Dichter abermals. Unter einem Vorwand wurde er am 28. August 1985 erneut mit Karzerhaft bestraft. Er trat in einen Hungerstreik, den er „bis zum Ende“ durchhalten wollte.

Wassyl Stus starb in der Nacht vom 3. auf den 4. September 1985. Seiner Familie wurde als Todesursache „Herzinsuffizienz“ angegeben. Begraben wurde er auf dem Lagerfriedhof in der Ortschaft Borisowo.

Im Januar 1989 wurden in Lwiw erstmals die nichtstaatlichen Wassyl-Stus-Preise „Für Talent und Mut“ verliehen. Gestiftet wurden sie von der Gesellschaft der Unabhängigen Ukrainischen Schöpferischen Intelligenz (Ukraïns’ka Asociacija Nezaležnoï Tvorčoï intelihenciï). Zu den bisherigen Preisträgern gehörten unter anderem Iwan Switlytschnyj, Nadija Switlytschna und Mychajlyna Kozjubynska. Am 19. November 1989 wurden die sterblichen Überreste von Wassyl Stus zusammen mit denen von Olexa Tychyj und Jurij Lytwyn nach Kiew überführt und dort auf dem Baikowe-Friedhof im Beisein von Zehntausenden Trauergästen feierlich beigesetzt. 1993 wurde Stus für sein Gesamtwerk posthum mit dem staatlichen Taras-Schewtschenko-Preis ausgezeichnet. Seine gesammelten Werke wurden zwischen 1994 und 1999 von seinem Sohn Dmytro Stus und Mychajlyna Kozjubynska publiziert.

Sofija Karassyk
Aus dem Polnischen von Gero Lietz
Letzte Aktualisierung: 10/20