Glossar

AB

Ungarischer Samisdat-Verlag, gegründet 1981 von einer Gruppe Bürgerrechtler um Gábor Demszky und Miklós Szabó. Das erste von „AB Független Kiadó“ (Unabhängiger Verlag AB) herausgegebene Buch war eine Sammlung von Texten, die in der Zeit nach dem 13. Dezember 1981 in der polnischen Untergrundpresse erschienen war (Titel des Buches: Az elnyomás és az ellenállás dokumentumai/Dokumente der Unterdrückung und des Widerstandes). Herausgegeben wurde der Band von der Bürgerrechtlerin und Polonistin Grácia Kerényi. Der erste Belletristik-Band des Verlags AB war eine Sammlung mit Texten des zeitgenössischen Dichters György Petri. Der im Siebdruckverfahren vervielfältigte Band erschien in einer Auflage von 940 Exemplaren. 1984 druckte AB János Kenedis Vorlesung „Die Krise der ungarischen demokratischen Opposition“ (A magyar demokratikus ellenzék válsága) und gab das Werk „Hungary“ des britischen Historikers Bill Lomax heraus.

ABC

Unabhängiges Verlagshaus in Ungarn, das 1983 von Jenő Nagy gegründet wurde, nachdem dieser sich von Gábor Demszkys Verlag AB getrennt hatte. Im „ABC Független Kiadó“ (Unabhängiger Verlag ABC) erschienen unter anderem Werke folgender Autoren: Arthur Koestler, John Biermann, Schores Alexandrowitsch Medwedew, Marek Nowakowski, György Konrád, János Kenedi, Károly Kiszely, Pál Szalai, Sándor Szilágyi und Zoltán Zsille.

Adler

Geheime, oppositionelle Jugendorganisation, die 1953 von Schülern der Mittelschule 23 in Tallinn gegründet wurde. Ihr Name bezog sich auf die Jugendabteilungen des „Bundes der Verteidigung“, die „Junge Adler“ hießen. Die Organisation „Adler“ (Kotkad) rief zum Kampf um die Wiedererlangung der Unabhängigkeit Estlands auf. Ihr Ziel war es, das nationale Bewusstsein zu stärken sowie das Ideal der Freiheit zu fördern. Am 24. Februar 1955 hängten Mitglieder aus Anlass des 37. Jahrestages der Unabhängigkeit in der Schule ein Flugblatt auf. Am 18. Oktober 1955 wurde eines ihrer Mitglieder, Erik Udam, verhaftetet und später verurteilt. Am 24. November 1956 kam auch der Gründer von „Adler“, Taiva Uiba, in Haft, woraufhin sich die Jugendorganisation auflöste.

Akademisches Zentrum

Das Akademische Zentrum (Akadėmičny asjarodak) war eine in den 60er und 70er Jahren in Belarus aktive Gruppe von über 30 Intellektuellen (Michas Tscharnjauski, Sjanon Pasnjak, Mikola Praschkovitsch, Ales Kaurus, Szjapan Misko). Die Mitglieder des mit der Akademie der Wissenschaften der Belarussischen SSR in Minsk verbundenen Zentrums sammelten Informationen, Erinnerungen, Bücher und Zeitschriften über die verschiedenen Phasen eines erstarkenden nationalen Bewusstseins, veranstalteten Treffen mit Aktivisten der belarussischen Nationalbewegung der Vorkriegszeit und mit ehemaligen politischen Häftlingen. Sie verbreiteten Untergrundpublikationen und pflegten Kontakte mit unabhängigen Gruppen der Intelligenz in Belarus und in anderen Sowjetrepubliken (Ukraine, Litauen, Russland). Das Zentrum löste sich 1974 auf, seine Mitglieder waren repressiven Maßnahmen der Behörden ausgesetzt und wurden aus der Akademie der Wissenschaften ausgeschlossen. Die Aktivisten spielten eine wichtige politische und gesellschaftliche Rolle während der Perestroika und nach der Erlangung der Unabhängigkeit des Landes.

Aktionsgruppe Banat

Inoffizieller Zusammenschluss von Schriftstellern deutscher Nationalität aus dem Banat, der im April 1972 in Temeswar (Timișoara) gegründet wurde. Ziel der Aktionsgruppe Banat (Grupul de Acțiune Banat) waren regimeunabhängige kulturelle Aktivitäten. Ihre aktivsten Mitglieder waren William Totok, Herta Müller und Richard Wagner. Nach der Auflösung der Gruppe im Herbst 1975 wurden einige ihrer Mitstreiter, darunter Totok und Wagner, wegen unerlaubten Grenzübertritts verhaftet. In den Folgejahren standen die Mitglieder der Aktionsgruppe Banat unter einem sich ständig verstärkenden Druck des kommunistischen Regimes. Letztendlich wurde ihnen dank der Intervention deutscher Stellen die Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland gestattet.

Aktionskampagne der Krimtataren

Mit einer Reihe von Demonstrationen, Streiks, Kundgebungen sowie Treffen mit der Partei- und Staatsführung verstärkten die Krimtataren 1987–89 den Kampf für ihre nationalen Rechte. Zu den wichtigsten Aktionen zählten drei Demonstrationen auf dem Roten Platz, eine Demonstration auf dem Puschkinplatz, eine zweitätige Versammlung im Ismailowoer Park sowie eine Kundgebung vor dem Empfangsgebäude des ZK der KPdSU in Moskau, ein Marsch vom Bahnhof Taman in der Region Krasnodar nach Simferopol, Demonstrationen und Kundgebungen in Taschkent, Simferopol, Chirchiq, Jangijul, Moskau, Samarkand, Bekabad, Almalyk und Bachtschyssaraj.

Allgemeine Erklärung der Menschenrechte

Erster internationaler Rechtsakt, in dem die elementaren Menschenrechte (Bürger-, politische und soziale Rechte) zum Ausdruck gebracht wurden. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte wurde von der Generalversammlung der Vereinten Nationen 1948 beschlossen und verkündet. Der Tag ihrer Verabschiedung – der 10. Dezember – ist der internationale Tag der Menschenrechte.

Während der Verabschiedung der Menschenrechtserklärung enthielt sich die Sowjetunion ihrer Stimme. Der Text der Erklärung wurde in der UdSSR nur in Fachzeitschriften in geringen Auflagen veröffentlicht. Ab Mitte der 60er Jahre wurde sie jedoch weitläufig im Samisdat verbreitet. Kopien in Form von Maschinenabschriften wurden häufig während der Hausdurchsuchungen bei Dissidenten beschlagnahmt. Sich auf Artikel der Menschenrechtserklärung zu berufen, in denen der Erhalt und die Verbreitung von Informationen ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen sowie das Recht auf Auswanderung, das Recht auf friedliche Versammlung und das Recht, sich zu gemeinsamen Zwecken zusammenzuschließen, garantiert wurden, war ein Grundprinzip der Menschenrechtsbewegung in der UdSSR und in anderen kommunistischen Ländern.

Allgemeines Komitee der nationalen Bewegungen in Litauen, Lettland und Estland

Koordinationsorgan der Opposition in den baltischen Ländern, das im August 1977 auf Initiative des Litauers Viktoras Petkus gegründet wurde. Die Entstehung des „Allgemeinen Komitees der nationalen Bewegungen in Litauen, Lettland und Estland“ sollte am 25. August 1977 in Moskau auf einer Pressekonferenz bekannt gegeben werden, an der westliche Korrespondenten teilnahmen. Zwei Tage zuvor wurde Petkus jedoch vom KGB in Wilna (Vilnius) verhaftet. Es setzten Massenverfolgungen ein und das Komitee löste sich auf.

Allrussischer Sozial-Christlicher Verband zur Befreiung des Volkes

Größte russische Untergrundorganisation der poststalinistischen Zeit. Der „Allrussische Sozial-Christliche Verband zur Befreiung des Volkes“ (Vserossijskij social-christianskij sojuz osvoboždenija naroda; WSChSON) wurde im Februar 1964 in Leningrad von einer Gruppe christlich-orthodoxer Jugendlicher gegründet. Als ihren ideellen Schirmherren betrachteten sie Nikolai Berdjajew und andere Religionsphilosophen aus der Zeit des beginnenden 20. Jahrhunderts. Nach dem vom Orientalisten Igor Ogurzow ausgearbeiteten Programm gehörten der Sturz der kommunistischen Diktatur in der Sowjetunion sowie die Gründung eines „theokratischen, sozialen, repräsentativen Volksstaates“ zu ihren Zielen. Das ebenfalls von Ogurzow stammende Statut sah eine streng konspirative Arbeitsweise vor, die auch bewaffnete Aktionen beinhaltete.

Die tatsächlichen Aktivitäten des Verbandes bestanden allerdings eher in der Verbreitung von Literatur und der Anwerbung neuer Mitglieder. Im Verlauf von drei Jahren wurden 25 Personen aufgenommen, weitere 30 bereiteten sich auf den Beitritt vor. Im Februar 1967 verhaftete der KGB die Leitung, gegen 21 Personen wurden Verfahren eröffnet. Die vier Gründer wurden wegen sogenannten „verschwörerischen Staatsverrates mit dem Ziel der Machtergreifung“ sowie wegen der „Gründung einer antisowjetischen Organisation“ angeklagt. Ogurzow erhielt fünf Jahre Gefängnis, zehn Jahre Lager und fünf Jahre Verbannung, die anderen Verurteilten bekamen Strafen zwischen sieben und einem Jahr. 

Nach ihrer Freilassung engagierten sich einzelne Mitglieder des Verbandes, darunter Leonid Borodin, in der sowjetischen Dissidentenbewegung und gaben die Zeitschrift „Veče“ (Volksversammlung) heraus. Der Prozess gegen den *Allrussischen Sozial-Christlichen Verband zur Befreiung des Volkes rief ein starkes Echo hervor und stellte den Anfang der nationalorthodoxen Bewegung innerhalb der sowjetischen Dissidentenbewegung dar.

„Alma Mater“

1972 von Povilas Pečeliūnas zum 400. Jubiläum der Universität Wilna herausgebene unabhängige historische und politische Zeitschrift. Es erschienen vier auf Schreibmaschine geschriebene Ausgaben in einer Auflage zwischen zehn und 20 Exemplaren. Die Zeitschrift wandte sich gegen die Herabwürdigung der Rolle, die die katholische Kirche und der Jesuitenorden in der Geschichte der litauischen Wissenschaft und Bildung spielten. Es wurden Ausschnitte der Werke der Exilphilosophen Antanas Maceina und Juozas Girnius abgedruckt. In der letzten Ausgabe erklärten der Herausgeber und die Autoren, dass sie ihre Aufgabe als erfüllt betrachteten. (Neudruck: Alma Mater MDLXXIX, Chicago 1982 , Nr. 1, 3–4).

„Altamira“

1983–85 war sie die einzige slowakische Samisdatzeitschrift, die in Bratislava (Pressburg) herausgegeben wurde. Die regelmäßig erscheinende Zeitschrift richtete sich an eine eher intellektuelle Leserschaft. Die Redakteure und Herausgeber waren Ján Langoš, Boris Lazar und Martin Klein. In der Zeitschrift publizierten unter anderem Milan Šimečka und Tomáš Petřivý. Pro Jahr erschien eine Ausgabe. Insgesamt wurden drei Hefte mit einem Umfang von 70 Seiten im A4-Format mit einer Auflage von etwa 20 Exemplaren gedruckt. Die Hefte wurden mit einer Schreibmaschine vervielfältigt. In der Zeitschrift erschienen literarische Texte, polemische Essays, philosophisch-theologische Abhandlungen tschechischer und slowakischer Autoren, zahlreiche Übersetzungen – unter anderem von Werken Dietrich Bonhoeffers oder von „Die Ethik der Solidarität“ (Etyka Solidarności) des polnischen Geistlichen Józef Tischner in der Übersetzung von Ján Langoš und Viliam Mojžiš – sowie Teile von Vladimir Nabokovs Roman „Lolita“ und Erzählungen von Isaak Bashevis Singer und Elie Wiesel.

Amnesty International

Internationale Nichtregierungsorganisation für den Schutz und die Förderung der Menschenrechte, die 1961 in London gegründet und 1977 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Sie kämpft für die Freilassung von Bürgern unterschiedlicher Länder, die für die gewaltfreie Äußerung ihrer Überzeugungen inhaftiert wurden sowie für die Zusicherung eines fairen Prozesses, für eine angemessene Behandlung der Häftlinge sowie für die Abschaffung von Folter und Todesstrafe. Um die Neutralität zu wahren, sollen die nationalen Sektionen von Amnesty International gemäß dem Statut nicht zum eigenen Land arbeiten. In der Vergangenheit wurden hauptsächlich kommunistische Staaten und Staaten der Dritten Welt, aber auch westliche Länder ausgewählt. Die Organisation veröffentlicht Jahresberichte über die Lage der Menschenrechte, entsendet Missionen, um Fakten vor Ort zu sammeln, um Gerichtsprozesses zu beobachten und um Interviews mit Verhafteten zu führen. Sie besitzt Sektionen in über 40 und lokale Gruppen in 176 Ländern.

Zwischen 1973 und 1983 bestand in Moskau eine Sowjetische Sektion von Amnesty International. Eine polnische Gruppe entstand im Oktober 1977, deren Mitglieder jedoch kurze Zeit später verhaftet wurden. Das Archiv der Organisation wird im Internationalen Institut für Sozialgeschichte in Amsterdam verwahrt.

Appell an das Internationale Olympische Komitee

Offener Brief von Bürgern Litauens, Lettlands und Estlands vom 28. Januar 1980 an das Internationale Olympische Komitee, die Olympischen Komitees der USA, Kanadas, Großbritanniens und anderer Länder, die die Annexion der baltischen Staaten durch die UdSSR nicht anerkannten. Der Brief rief die olympischen Organisationen zum Boykott der Spiele in Moskau 1980 auf. Vor allem sollten die olympischen Regatten in der estnischen Hauptstadt Tallinn boykottiert werden.

Appell an den UNO-Generalsekretär und an die Regierungen der Atomwaffenstaaten

Offener Brief von Bürgern aus Litauen und Lettland vom 24. Dezember 1984, der die Staaten, die über Atomwaffen verfügten, dazu aufrief, diese abzuschaffen und ihre Truppen vom Territorium fremder Länder abzuziehen. In dem Aufruf wurden Pressefreiheit, Freiheit für oppositionelles politisches Handeln sowie eine Amnestie für politische Häftlinge gefordert. Außerdem wurde verlangt, die Störung von westlichen Radiosendern aufzugeben, sowie Reisefreiheit und das Recht auf die Verbreitung unabhängiger Literatur zu gewährleisten.

Appell an die Regierungschefs der UdSSR und der nordischen Länder

Offener Brief von Bürgern Litauens, Lettlands und Estlands vom 10. Oktober 1981 an die Regierungschefs der UdSSR, Islands, Norwegens, Dänemarks, Schwedens und Finnlands im Zusammenhang mit Plänen für die Schaffung eines atomwaffenfreien Korridors in Nordeuropa. In dem Aufruf wurde die Notwendigkeit unterstrichen, die von der Sowjetunion okkupierten baltischen Staaten in diesen Korridor einzubeziehen.

Appell an die Weltöffentlichkeit

Erster Menschenrechtsappell des sowjetischen Samisdat, der ausdrücklich an die Weltöffentlichkeit adressiert wurde. Seine Autoren Larissa Bogoras und Pawel Litwinow übergaben den Text am Vortag der Urteilsverkündung des Prozesses der Vier am 11. Januar 1968 an westliche Journalisten. Im „Appell an die Weltöffentlichkeit“ (K mirovoj obščestvennosti) wurde die Atmosphäre der Rechtlosigkeit beschrieben, die im Prozess und in seinem Umfeld herrschte sowie die Bestrafung der dafür Schuldigen und die Neuaufnahme des Verfahrens unter rechtsstaatlichen Grundsätzen und Beteiligung internationaler Beobachter verlangt. Der Appell wurde in der Weltpresse veröffentlicht und wiederholt in westlichen Rundfunksendern verlesen. Die beiden Autoren gaben ihre Namen und Adressen offen an, woraufhin sie Dutzende Briefe und Solidaritätserklärungen erhielten. Einige der Briefautoren wurden später Mitglieder der sowjetischen Menschenrechtsbewegung. Der Appell wurde zum Anstoß und zur ideellen Grundlage der Petitionskampagne zum Prozess der Vier. Er wurde in dem von Pawel Litwinow herausgegebenen Band „Der Prozess der Vier. Eine Sammlung von Dokumenten über den Gerichtsprozess an A. Ginsburg, J. Galanskow, A. Dobrowolski und W. Laschkowa“, Frankfurt am Main 1968 (Process cetyrëch. Sbornik dokumentov po sudie nad A. Ginsburgom, J. Galanskovym, A. Dobrovolskim, V. Laškovoj) veröffentlicht.

Appell an die Wissenschaftler und Kultur- und Kunstschaffenden

Appell, der im Februar 1968 von den Moskauer Menschenrechtlern Pjotr Jakir, Juli Kim und Ilja Gabaj verfasst wurde. Der „Appell an die Wissenschaftler und Kultur- und Kunstschaffenden“ (K dejateljam nauki, kul’tury i iskusstva) war eine der wichtigsten Reaktionen des Samisdat auf den Prozess der Vier sowie weitere politische Prozesse der Jahre 1966–68. Die Autoren verknüpften die Repressionen gegen Oppositionelle mit anderen „unheilvollen Symptomen der Restauration des Stalinismus“ in der Sowjetunion, die nach dem Sturz von Staats- und Parteichef Nikita Chruschtschow zum Tragen kämen. Der Appell rief die schöpferische Intelligenz dazu auf, sich für politisch Verfolgte einzusetzen. Das Dokument wurde in dem von Pawel Litwinow herausgegebenen Band „Der Prozess der Vier. Eine Sammlung von Dokumenten über den Gerichtsprozess an A. Ginsburg, J. Galanskow, A. Dobrowolski und W. Laschkowa“, Frankfurt am Main 1968 (Process četyrëch. Sbornik dokumentov po sudie nad A. Ginsburgom, J. Galanskovym, A. Dobrovolskim, V. Laškovoj) veröffentlicht.

Arbeitskommission zur Erforschung des Einsatzes der Psychiatrie zu politischen Zwecken

Die Kommission wurde am 5. Januar 1977 von der Moskauer Helsinki-Gruppe mit dem Ziel ins Leben gerufen, Fälle von Zwangspsychiatrisierung aufzudecken, den politischen Missbrauch der Psychiatrie zu beenden und betroffenen Opfern Hilfe zu leisten. Die „Arbeitskommission zur Erforschung des Einsatzes der Psychiatrie zu politischen Zwecken“ (Rabočaja komissija po rassledovaniju ispol'zowanija psichiatrii w političeskich celach) entstand auf Initiative von Pjotr Grigorenko. Es gehörten ihr zu verschiedenen Zeitpunkten Wjatscheslaw Bachmin, Irina Kaplun, Alexander Podrabinek, Felix Serebrow, Dschemma Babitsch (Kwatschewska), Leonard Ternowski und Irina Griwnina an. Juristische Beraterin war Sofia Kallistratowa, die medizinische Beratung übernahm Alexander Woloschanowitsch und nach dessen Ausreise aus der UdSSR Anatoli Korjagin.

An die Kommission wandten sich Personen, die aus politischer Gründen angeklagt, für unzurechnungsfähig erklärt und gerichtlich zu einer psychiatrischen Zwangsbehandlung eingewiesen worden waren. Um ein unparteiisches Gutachten erstellen zu können, prüfte die Kommission, ob das offizielle medizinische Gutachten aus wissenschaftlicher Perspektive solide angefertigt war, ob alle Vorschriften des Strafprozessrechtes eingehalten wurden und ob die mutmaßlichen Taten des Angeklagten tatsächlich eine gesellschaftliche Gefährdung darstellten, die eine Zwangsbehandlung rechtfertigten. Die Betroffenen wurden mit ihrer Zustimmung von einem psychiatrischen Gutachter der Kommission untersucht. Bestanden in nur einem der obigen Punkte Zweifel, stellte die Kommission einen Antrag auf Revision der Gerichtsentscheidung. Außerdem führte sie einen Zettelkatalog mit Häftlingen *psychiatrischer Krankenhäuser besonderen Typs, sammelte Informationen über Missbrauchsfälle sowie über Psychiater und Krankenhausleiter, die für „politische“ Diagnosen und Misshandlungen von Patienten verantwortlich waren. Zusammen mit dem Hilfsfonds für politische Häftlinge und ihre Familien leistete die Arbeitskommission materielle Hilfe für Häftlinge und ihre Angehörigen.

Die Kommission richtete mehrere Hundert Briefe, Erklärungen und Appelle an verschiedene Organisationen und offizielle Einrichtungen. In der Regel erhielt sie keine Antwort. Zwischen 1977 und 1980 gab sie 24 Ausgaben eines Informationsbulletins heraus, das alle zwei Monate mit einer Auflage von 50 bis 60 Stück erschien und Informationen über psychiatrische Repressionen enthielt. Die Kommission existierte bis 1981, als ihr letztes Mitglied Leonard Ternowski verhaftet wurde. Dank der Kommission und des Bekanntwerdens ihrer Arbeit im Ausland entstand ein gesellschaftliches Klima, das Zwangspsychiatrie in der UdSSR verurteilte und dazu führte, dass Opfer psychiatrischer Repressionen freigelassen wurden. 1983 war die Sowjetunion gezwungen, unter der Androhung ihres Ausschlusses den Weltpsychiatrieverband selbsttätig zu verlassen.

„Archipel Gulag“

Buch von Alexander Solschenizyn, das in dokumentarisch-literarischer Form die politischen Repressionen und das Straflagersystem der UdSSR darstellt. Der vollständige Titel lautet: „Der Archipel Gulag 1918–1956. Versuch einer künstlerischen Bewältigung“ (Archipelag GULAG 1918–1956. Opyt chudožestwennogo issledovanija). 1968 wurde das Manuskript, das drei Bände mit mehr als 2.000 Seiten umfasst, ins Ausland gebracht. Ende Dezember 1973 erschien der erste Band bei YMCA-Press in Paris. Auszüge, die in die meisten Weltsprachen übersetzt wurden, erschienen gleichzeitig in gewaltigen Auflagen in europäischen und amerikanischen Zeitschriften. 1974–76 wurden zwei weitere Bände veröffentlicht. Alexander Solschenizyn, der aus der Sowjetunion ausgewiesen worden war, spendete die Autorenhonorare dem Hilfsfonds für politische Häftlinge und ihre Familien.

In der UdSSR zirkulierte der Text im Samisdat. Für seine Vervielfältigung und Verbreitung wurden viele Personen verurteilt (unter anderen Sergei Kowaljow, Swiad Gamsachurdia und Wjatscheslaw Igrunow). 1989 wurden in der Monatszeitschrift „Novy Mir“ vom Autor ausgewählte Auszüge veröffentlicht, ein Jahr später erschien das Buch vollständig.

Armenhilfefonds

Der Armenhilfefonds (Szegényeket Támogató Alap; SZETA) war die erste zivilgesellschaftliche Organisation in Ungarn. Sie wurde 1979 von Gábor Havas, Gábor Iványi, Gabriella Lengyel, Magda Matoley, András Nagy, Bálint Nagy, Katalin Pik und Ottilia Solt gegründet. Viele der aktivsten Mitstreiter des Fonds waren aus der sogenannten Kemény-Schule hervorgegangen, das heißt: Sie hatten Seminare des ungarischen Soziologen István Kemény besucht, der in den 70er Jahren die ärmsten Schichten der ungarischen Gesellschaft wissenschaftlich untersuchte und sich klar von den philosophischen und ökonomischen Grundlagen des Marxismus distanzierte.

Ziel des Fonds war es, Menschen in schwierigen Lebensverhältnissen unmittelbar zu helfen. Darüber hinaus verfolgte er das Anliegen, die Sozialpolitik des Staates zu kontrollieren. Die gesammelten Sach-, Geld- und Kleiderspenden übergab der Armenhilfsfonds an Bedürftige. Die Mitarbeiter des Fonds engagierten sich persönlich beim Packen und Versenden von Hilfspaketen. Der Fonds existierte bis zum Ende der 80er Jahre. Empfänger der Hilfsleistungen waren unter anderen Kinder polnischer Bürgerrechtler, die im Sommer zu Ferienaufenthalten nach Ungarn eingeladen wurden.

Armenisch-aserbaidschanischer Konflikt

Politischer und militärischer Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan um Bergkarabach und Nachitschewan. Nach der Entscheidung der Gebietsführung der autonomen Region Bergkarabach über den Austritt des Gebietes aus dem Verbund mit Aserbaidschan und den Anschluss an Armenien fand im Februar 1988 ein Pogrom gegen Armenier in Sumgait statt. Aserbaidschan blockierte wenig später die Verkehrswege nach Armenien. Nach einem Pogrom in Baku im Januar 1990 flohen Armenier massenhaft aus Aserbaidschan. Im gleichen Jahr begann zwischen beiden Republiken ein bewaffneter Konflikt, der 1994 mit einem Waffenstillstand beendet wurde. Trotz langjähriger Bemühungen der Weltgemeinschaft konnte der Konflikt bisher nicht gelöst werden. Zuletzt flammte er im Krieg um Bergkarabach 2020 wieder auf.

Armenische Helsinki-Gruppe

Die Armenische Helsinki-Gruppe wurde am 1. April 1977 von Eduard Arutjunjan, Robert Nasarjan und Samwel Osjan gegründet und war die erste Menschenrechtsorganisation in Armenien. Später schloss sich ihr auch Schahen Harutjunjan und Ambarzum Chlgatjan an. Wichtige Ziele waren die Überwachung der Einhaltung der KSZE-Schlussakte von Helsinki sowie die Schaffung einer Lobby für die Aufnahme der armenischen Sowjetrepublik in die Vereinten Nationen und den Anschluss von Bergkarabach und Nachitschewan an Armenien. Nach der Verhaftung von Robert Nasarjan und Schahen Harutjunjan im Dezember 1977 stellte die Gruppe ihre Aktivitäten ein.

Artikel 190, Paragraf 1 Strafgesetzbuch der RSFSR

Artikel 190, Paragraf 1 des Strafgesetzbuchs der RSFSR („Verleumdung des sowjetischen Systems“) lautete:

„Die systematische Verbreitung wissentlich falscher Behauptungen in mündlicher Form, welche die sowjetische staatliche und gesellschaftliche Ordnung verleumden, sowie die Herstellung und Verbreitung von Werken in schriftlicher oder anderer Form gleichen Inhalts werden mit Freiheitsentzug bis zu drei Jahren, mit Besserungsarbeit bis zu einem Jahr oder mit einer Geldbuße in Höhe von bis zu 100 Rubel bestraft“.

Der aus drei Paragrafen bestehende Artikel 190 trat am 16. September 1966 per Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjets der RSFSR in Kraft. Ab 1967 wurde er neben den für „sehr gefährliche Verbrechen“ vorbehaltenen Artikel 58, Paragraf 10 Strafgesetzbuch der RSFSR und Artikel 70 Strafgesetzbuch der RSFSR („antisowjetische Agitation und Propaganda“) über zwanzig Jahre lang weitflächig zur Verfolgung der sowjetischen Dissidenten genutzt. Vor allem gegen Autoren und Verbreiter des Samisdat und Tamisdat (Exilliteratur) sowie gegen Personen, die sich mündliche Kritik am Regime erlaubt hatten, wurde Artikel 190, Paragraf 1 angewandt. Mehr als 1.500 Personen wurden wegen angeblicher „Verleumdung des sowjetischen Systems“ verurteilt. Der Artikel wurde per Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjets am 8. April 1989 gestrichen.

Artikel 190, Paragraf 3 Strafgesetzbuch der RSFSR

Der Artikel 190 des Strafgesetzbuchs der RSFSR („Störung der öffentlichen Ordnung“) trat am 16. September 1966 in Kraft. Sein dritter Paragraf wurde gegen die Teilnehmer von behördlich nicht genehmigten Demonstrationen und Protestkundgebungen sowie öffentlichen Einzelaktionen eingesetzt (zum Beispiel Demonstration der Sieben, Demonstration auf dem Puschkin-Platz). Er lautete:

„Die Organisation oder die aktive Teilnahme an Gruppenhandlungen, welche grob die öffentliche Ordnung stören oder mit offenem Ungehorsam gegen rechtmäßige Forderungen der Behörden verbunden sind, oder die eine Störung des Verkehrs oder der Arbeit von staatlichen und gesellschaftlichen Einrichtungen oder Betrieben verursachen, werden mit Freiheitsentzug bis zu drei Jahren, mit Besserungsarbeit bis zu einem Jahr oder mit einer Geldbuße in Höhe von bis zu 100 Rubel bestraft.“

Mit dem 1988 vom Präsidium des Obersten Sowjets verabschiedeten Dekret über Kundgebungen und Demonstrationen verlor der Paragraf an Bedeutung und fand keine Anwendung mehr.

Artikel 190, Paragraf 3 Strafgesetzbuch der RSFSR

Der Artikel 190 des Strafgesetzbuchs der RSFSR („Störung der öffentlichen Ordnung“) trat am 16. September 1966 in Kraft. Sein dritter Paragraf wurde gegen die Teilnehmer von behördlich nicht genehmigten Demonstrationen und Protestkundgebungen sowie öffentlichen Einzelaktionen eingesetzt (zum Beispiel Demonstration der Sieben, Demonstration auf dem Puschkin-Platz). Er lautete:

„Die Organisation oder die aktive Teilnahme an Gruppenhandlungen, welche grob die öffentliche Ordnung stören oder mit offenem Ungehorsam gegen rechtmäßige Forderungen der Behörden verbunden sind, oder die eine Störung des Verkehrs oder der Arbeit von staatlichen und gesellschaftlichen Einrichtungen oder Betrieben verursachen, werden mit Freiheitsentzug bis zu drei Jahren, mit Besserungsarbeit bis zu einem Jahr oder mit einer Geldbuße in Höhe von bis zu 100 Rubel bestraft.“

Mit dem 1988 vom Präsidium des Obersten Sowjets verabschiedeten Dekret über Kundgebungen und Demonstrationen verlor der Paragraf an Bedeutung und fand keine Anwendung mehr.

Artikel 58, Paragraf 10 Strafgesetzbuch der RSFSR

Artikel 58, Paragraf 10 Strafgesetzbuch der RSFSR („Antisowjetische Agitation und Propaganda“) war zwischen 1927 und 1958 rechtswirksam und lautete: „Agitation oder Propaganda, die zum Sturz, zur Unterhöhlung oder Schwächung der Sowjetmacht oder zur Begehung einzelner konterrevolutionärer Verbrechen auffordern, sowie die Verbreitung, Herstellung oder Aufbewahrung von Schriften gleichen Inhaltes werden mit Freiheitsentzug nicht unter sechs Monaten bestraft. Werden die gleichen Handlungen im Verlauf von Massenunruhen, unter Ausnutzung religiöser oder nationaler Vorurteile der Massen, während des Krieges oder an Orten, über die das Kriegsrecht verhängt wurde, begangen, so ziehen sie die in Artikel 58, Paragraf 2 Strafgesetzbuch bezeichneten Maßnahmen des sozialen Schutzes nach sich“ (Erschießung, Abschiebung aus der UdSSR auf Lebenszeit, Freiheitsentzug und Beschlagnahmung des Vermögens).

Artikel 58, Paragraf 10 wurde bis zu Stalins Tod als universelles Instrument des staatlichen Massenterrors genutzt. Seine Folgen betrafen praktisch alle Bevölkerungsschichten unabhängig vom Alter, dem sozialen, beruflichen und ethnischen Hintergrund, und sogar Personen, die der sowjetischen Macht treu ergeben waren. Nach dem Tod Stalins sank die Zahl derer, die jährlich auf der Grundlage dieses Artikels verurteil wurden, abrupt ab. Auch die verhängten Strafen wurden weniger, die Todesstrafe kam praktisch nicht mehr zur Anwendung.

Ab 1959/60 wurde ein leicht veränderter Artikel, der mit dem 1958 erlassenen Gesetz „Über die strafrechtliche Verantwortlichkeit bei Verbrechen gegen den Staat“ rechtswirksam wurde, und ab 1961 Artikel 70 Strafgesetzbuch der RSFSR angewandt.

Artikel 58, Paragraf 1 Strafgesetzbuch der RSFSR

Der 1926 eingeführte Artikel 58 des Strafgesetzbuches („Vaterlandsverrat“) betraf „konterrevolutionäre Verbrechen gegen den Staat“. Der ursprünglich den „Vaterlandsverrat“ betreffende Paragraf 1 wurde 1934 um folgende vier Punkte ergänzt:

a) Handlungen von Sowjetbürgern zum Nachteil der militärischen Leistungsfähigkeit der UdSSR, der staatlichen Unabhängigkeit oder der Unantastbarkeit des Territoriums wie Spionage, Verrat eines militärischen oder eines Staatsgeheimnisses, Überlaufen zum Feind oder Flucht ins Ausland;

b) gleiche Verbrechen begangen durch Militärangehörige;

c) Verantwortlichkeit von Familienmitgliedern der „Verräter“, selbst wenn sie nichts über die Vorbereitung oder die Durchführung eines Verrates gewusst hattenf; und

d) die Verantwortlichkeit bei der Nichtanzeige eines geplanten oder begangenen Verrates.

Für die Punkte a) und b) war als Höchststrafe „Todesstrafe und Konfiskation des Vermögens“ vorgesehen. Eine Strafminderung zu zehn Jahren Freiheitsentzug ermöglichte nur Punkt a) bei Vorliegen mildernder Umstände.

Anklagen wegen „Vaterlandsverrates“ wurden im Stalinismus zur physischen Liquidierung tatsächlicher oder vermeintlicher politischer Gegner des sowjetischen Regimes genutzt. Während und nach dem Zweiten Weltkrieg wurden auf Grundlage dieses Vorwurfs massenhaft Militärangehörige, die in Kriegsgefangenschaft geraten waren sowie zur Zwangsarbeit ins Ausland deportierte Zivilisten angeklagt. Die Beteiligung am nationalen Widerstand gegen das Regime wurde – wie in den baltischen Staaten oder der Ukraine – ebenfalls als „Verrat“ gewertet.

Die Liberalisierung der Strafverfolgungspolitik nach Stalins Tod führte zu einer drastischen Verringerung der Verurteilungen. Im Gesetz der UdSSR vom 25. Dezember 1958 „Über die strafrechtliche Verantwortlichkeit bei Verbrechen gegen den Staat“ (Artikel 1) wurde das Kriterium des Vorsatzes eingeführt. So wurden beispielsweise der „Beistand zugunsten eines fremden Staates bei der Durchführung feindlicher Tätigkeiten gegen die UdSSR“ sowie „Verschwörungen mit dem Ziel der Machtergreifung“ dem Artikel hinzugefügt. Diese Spezifikationen waren vormals in anderen Paragrafen des Artikels 58 geregelt worden. Zwar wurden nach wie vor strenge Strafen einschließlich der Todesstrafe angedroht, der Artikel wurde jedoch selbst in Zeiten politischer Krisen in der UdSSR nur selektiv angewendet. 1961 wurde Artikel 58 durch Artikel 64 Strafgesetzbuch der RSFSR ersetzt.

Artikel 64 Strafgesetzbuch der RSFSR

Artikel 64 des Strafgesetzbuches der RSFSR („Vaterlandsverrat“) trat am 1. Januar 1961 in Kraft und lautete: „Vaterlandsverrat ist eine vorsätzliche Handlung eines Bürgers der UdSSR zum Nachteil der staatlichen Unabhängigkeit, der Unverletzbarkeit des Territoriums oder der militärischen Leistungsfähigkeit der UdSSR. Der Übertritt auf die Seite des Feindes, Spionage, der Verrat von Staats- oder Militärgeheimnissen an einen fremden Staat, die Flucht ins Ausland, die Verweigerung der Rückkehr aus dem Ausland in die UdSSR, die Unterstützung eines fremden Staats bei der Umsetzung feindlicher Handlungen gegen die UdSSR sowie die Verschwörung mit dem Ziel der Machtergreifung wird Freiheitsentzug von zehn bis 15 Jahren, mit Beschlagnahmung des Eigentums, mit Verbannung von zwei bis fünf Jahren oder ohne Verbannung oder mit Todesstrafe und mit Beschlagnahmung des Eigentums bestraft.“

Diese Vorschrift ersetzte Artikel 58, Paragraf 1 Strafgesetzbuch der RSFSR von 1934. Genau wie Artikel 70 Strafgesetzbuch der RSFSR trat sie auf Grundlage des sowjetischen Gesetzes „Über die strafrechtliche Verantwortlichkeit bei Verbrechen gegen den Staat“ (Artikel 1) vom 25. Dezember 1958 in Kraft. Als Vaterlandsverrat galten danach zum Beispiel Flucht und sogar gescheiterte Fluchtversuche aus der UdSSR, die Verweigerung der Rückkehr aus dem kapitalistischen Ausland, (gewaltfreie) Handlungen und Bestrebungen nach Selbstbestimmung der nichtrussischen Sowjetvölker oder die Bildung einer Organisation mit dem Ziel, das Regierungssystem zu wechseln.

Gegen Dissidenten wurde dieser Artikel eher selten angewandt. Ausnahmen waren der *Allrussische Sozial-Christliche Verband zur Befreiung des Volkes, aktive Mitglieder der Nationalbewegungen in den Sowjetrepubliken und Natan Scharanski, der wegen Spionage angeklagt wurde. Die Revision von Verfahren, die auf der Grundlage dieses Artikels stattgefunden hatten, wurde während der Perestroika begonnen und nach dem Zerfall der UdSSR fortgesetzt. In den einzelnen Nachfolgestaaten verlief sie unterschiedlich. Im Baltikum wurde das Problem radikal gelöst, indem die UdSSR zur Okkupationsmacht erklärt wurde und der Kampf gegen diese somit nicht als Verbrechen gelten konnte.

Artikel 70 Strafgesetzbuch der RSFSR

Artikel 70 des Strafgesetzbuches der RSFSR („Antisowjetische Agitation und Propaganda“) trat am 1. Januar 1961 in Kraft und lautete:

„Agitation und Propaganda, die mit dem Ziel der Untergrabung oder Schwächung der Sowjetmacht oder der Begehung einzelner besonders gefährlicher Staatsverbrechen betrieben wird, die Verbreitung verleumderischer Unwahrheiten, welche die sowjetische staatliche und gesellschaftliche Ordnung in üblen Ruf bringen mit denselben Zielen, sowie die Verbreitung, Herstellung oder Aufbewahrung von Schriften gleichen Inhalts mit denselben Zielen wird mit Freiheitsentzug von sechs Monaten bis sieben Jahren, mit Verbannung von zwei bis fünf Jahren oder ohne Verbannung bestraft." (Paragraf 1)

"Die gleichen Handlungen werden, wenn sie von einer Person begangen wurden, die bereits zuvor wegen besonders gefährlicher Staatsverbrechen verurteilt worden war, oder wenn sie in Kriegszeiten begangen wurden, mit Freiheitsentzug von drei bis zehn Jahren ohne Verbannung oder mit Verbannung von zwei bis fünf Jahren bestraft.“ (Paragraf 2)

Dieser Artikel ersetzte den seit 1927 geltenden Artikel 58, Paragraf 10 Strafgesetzbuch der RSFSR und wurde mit dem Gesetz vom Dezember 1958 „Über die strafrechtliche Verantwortlichkeit bei Verbrechen gegen den Staat“ (Artikel 7) wirksam.

Von 1961 bis 1966 war dieser Artikel das wichtigste rechtliche Instrument, das zur Verfolgung praktisch aller Formen abweichenden Denkens genutzt wurde. Nachdem 1960 Artikel 190, Paragraf 1 Strafgesetzbuch der RSFSR in das Strafgesetzbuch aufgenommen worden war, wurden nur noch die aus staatlicher Sicht „gefährlichsten“ Handlungen nach Artikel 70 verfolgt. 1961–86 wurden insgesamt mehr als 1.800 Personen wegen „Agitation und Propaganda“ verurteilt. Mit Dekreten des Obersten Sowjets der UdSSR (vom 8. April 1984) und der RSFSR (vom 11. September 1990) wurde Artikel 70 grundlegend abgeändert.

Artikel 72 Strafgesetzbuch der RSFSR

Artikel 72 des Strafgesetzbuches der RSFSR („Beteiligung an einer antisowjetischen Organisation“) trat am 1. Januar 1960 in Kraft und lautete:

„Organisatorische Tätigkeiten zur Vorbereitung oder Begehung besonders gefährlicher Verbrechen gegen den Staat, die Gründung einer Organisation, deren Ziel die Verübung solcher Verbrechen ist, sowie die Teilnahme an einer antisowjetischen Organisation unterliegen der Bestrafung gemäß Artikel 64 bis Artikel 71 StGB“.

Artikel 72 wurde durch das „Gesetz über die strafrechtliche Verantwortlichkeit bei Verbrechen gegen den Staat“ (Artikel 9) vom 25. Dezember 1958 wirksam. Er benannte keine Sanktionen und wurde hauptsächlich in Verbindung mit Artikel 70 Strafgesetzbuch der RSFSR und Artikel 64 Strafgesetzbuch der RSFSR gegen konspirative Gruppen angewandt. Auch einige religiöse Gemeinschaften (Zeugen Jehovas, Wahre Russisch-Orthodoxe Kirche, Adventisten) wurden als „antisowjetische Organisationen“ betrachtet. Der Staat vermied es, den Artikel gegen Mitglieder von Menschenrechtsorganisationen wie beispielsweise gegen die Initiativgruppe zur Verteidigung der Menschenrechte in der UdSSR oder die Helsinki-Gruppen anzuwenden. Er blieb bis 1996 in Kraft.

Ateitis

Ziel des 1911 gegründeten national-katholischen litauischen Jugendverbands Ateitis (Zukunft) war die Förderung religiöser, kultureller und sozialer Einstellungen durch Bildung. Nach der Unabhängigkeit Litauens 1918 gewann die Organisation an Bedeutung und zählte zahlreiche Intellektuelle zu ihren Mitgliedern. Unter dem autoritären Regime von Antanas Smetona ab Ende der 20er Jahre musste Ateitis im Untergrund agieren. Während des Zweiten Weltkriegs wurden die Zellen der Organisation zu Zentren des nationalen Widerstands gegen die sowjetische und deutsche Besatzung des Landes. Hunderte Ateitis-Mitglieder wurden verhaftet, in die Verbannung geschickt und kamen in Gefängnissen und Lagern ums Leben. Nach 1945 wurde die Tradition von Ateitis im Exil weitergeführt. Nach der Unabhängigkeit des Landes 1990 ist die Organisation auch in Litauen wieder aktiv.

Audienz im Kreml

Am 27. Juli 1987 traf eine Delegation der Krimtataren den Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets Andrei Gromyko. Dabei überreichten die krimtatarischen Vertreter des Volkes eine „Nationale Erklärung“ an den Generalsekretär des ZK der KPdSU Michail Gorbatschow mit der Forderung, den Krimtataren die ihnen zustehenden Rechte zurückzugeben. Gromyko gab die Gründung einer Sonderkommission zur Prüfung aller in Briefen und Erklärungen aufgeworfenen Probleme bekannt. Er unterstrich, dass „alle Versuche, Druck auf die Staatsorgane auszuüben, die Arbeit der Kommission nur erschweren werden“.

„Aušra“

Die katholische gesellschaftspolitische Zeitschrift „Aušra“ (Morgenröte) erschien 1975–88 im litauischen Samisdat. Sie stand in der Tradition eines Periodikums gleichen Namens, das sich um die Entwicklung des litauischen Nationalbewusstseins verdient gemacht hatte und illegal von 1883–86 erschien, als die russischen Behörden in Litauen Publikationen in lateinischen Buchstaben verboten hatten. Redakteure der neuen „Aušra“, die als Nachfolgerin der alten mit einer doppelten Zählung erschien, waren die Priester Sigitas Tamkevičius (1975–76) und Longinas Kunevičius (1977–88). Thematisch befasste sich die Zeitschrift mit der Diskriminierung des Katholizismus in der UdSSR, mit der Unterdrückung des litauischen Nationalbewusstseins, und mit moralischen Fragen. Ein Schwerpunkt war zudem die Auseinandersetzung mit den Geheimen Zusatzprotokollen zum Hitler-Stalin-Pakt. „Aušra“ wurde kontinuierlich in der „Chronik der laufenden Ereignisse“ besprochen. Alle Ausgaben wurden in den USA nachgedruckt. Die Zeitschrift erschien bis zur Wiedererlangung der litauischen Unabhängigkeit 1991.