Ukraine (Krimtataren)

Rollan Kadijew

Rollan Kadijew, 1937–90

Rollan Kadyev

Роллан Кадыев

Physiker, Aktivist der krimtatarischen Bewegung. Samisdat-Autor und Engagement für die Weiterverbreitung von Samisdat-Publikationen.

Rollan Kadijew wurde 1937 in Simferopol (Aqmescit) auf der Krim geboren. 1944 erlebte er zusammen mit seiner Familie die Deportation der Krimtataren nach Usbekistan. In Samarkand betätigten sich seine Eltern in der krimtatarischen Bewegung und waren Mitglieder der ersten Initiativgruppen, die sich für das Recht der Tataren auf Rückkehr in die Heimat einsetzten. 1959 schloss Kadijew sein Studium an der Physikalischen Fakultät der Universität Samarkand mit Auszeichnung ab und wurde Mitarbeiter des Lehrstuhls für Theoretische Physik. Hier hielt er Lehrveranstaltungen zur Relativitätstheorie und beschäftigte sich mit Fragen der Astrophysik und der Gravitation.

1965 war Kadijew Mitbegründer der Initiativgruppe der Jugend in Samarkand. Seine Mitstreiter in der Jugendarbeit waren Enwer Ablasisow (Dozent an der Berufsschule für Kfz-Technik), die Bauingenieure Risa Janussow und Ferat Usseinow, der Hochschullehrer Weli Ismajlow sowie die Bibliothekarin der Musikschule Schefika Konsul. Als er sich im Dezember 1966 weigerte, für Studierende ein politisches Referat über die „demokratische sowjetische Verfassung“ zu halten, erteilte ihm die Universitätsparteileitung einen Tadel. Seine Entscheidung hatte er damit begründet, dass er als Krimtatare immer wieder Fälle erlebt habe, bei denen die Verfassung verletzt und verzerrt worden sei. Gemeinsam mit Weli Ismajlow widersetze er sich den herabwürdigenden Aussagen eines Vertreters des ZK der KPdSU während einer Hochschuldiskussion anlässlich des Dekrets von 1967 über die Krimtataren. Der Rektor der Universität sprach daraufhin eine strenge Verwarnung gegen sie aus. Im August des Jahres verfasste und verbreitete Kadijew einen Appell der krimtatarischen Jugend des Gebiets Samarkand sowie einen Appell des krimtatarischen Volkes an Leonid Breschnew. Für beide Texte sammelte er Unterschriften.

Kadijew arbeitete an zahlreichen Dokumenten mit. Dazu gehörten die Nr. 69 der „Informationen“, mit einem Bericht über Repressionen gegen Krimtataren im Zuge von Demonstrationen in Moskau vom 16. bis 18. Mai 1968, der Appell des krimtatarischen Volkes an die Teilnehmer einer Sitzung des Obersten Sowjets der UdSSR im Juli 1968 sowie ein Appell der Vertreter des krimtatarischen Volkes an die internationale Gemeinschaft. Weitere Texte wurden an verschiedene Organisationen, an Zeitungsredaktionen, an den Obersten Sowjet, an das ZK der KPdSU und an den Ministerrat der UdSSR verschickt. Kadijew knüpfte auch Kontakte zu Moskauer Menschenrechtsaktivisten, unter anderem zu Alexei Kosterin, Pjotr Grigorenko und Andrei Sacharow.

Mehrfach reiste er als Vertreter des Volkes nach Moskau. Im März 1968 vertrat er gemeinsam mit Ferat Usseinow die Gruppe Samarkand auf der Beratung der Initiativgruppen im ostusbekischen Andischon (Andischan). Im Frühjahr 1968 traf er zusammen mit anderen krimtatarischen Aktivisten Vorbereitungen für eine Kundgebung in Moskau zum Gedenken an die Deportation von 1944. Am 17. Mai 1968 wurden die Organisatoren festgenommen und mussten Moskau verlassen. Gemeinsam mit Ismail Jazydschijew beschrieb er diese Ereignisse in Form eines „geschlossenen Briefes“ an die Mitglieder der Initiativgruppen des Gebiets Samarkand.

Am Rande einer internationalen Tagung zur Relativitätstheorie in Tbilissi im Sommer 1968 gab Kadijew westlichen Journalisten ein Interview zur Nationalbewegung der Krimtataren. Am 8. Oktober 1968 wurde er verhaftet. Vorgeworfen wurden ihm Aktivitäten, die gemäß Artikel 190, Paragraf 1 Strafgesetzbuch der RSFSR und entsprechenden Paragrafen in den Strafgesetzbüchern der Usbekischen und Ukrainischen SSR unter Strafe standen. Aus Protest gegen den rechtswidrigen Verlauf der mehr als zehn Monate dauernden Ermittlungen trat er in den Hungerstreik und wandte sich mit einer Erklärung an den Generalstaatsanwalt der UdSSR Roman Rudenko sowie an den damaligen KGB-Chef Juri Andropow. Sein Fall wurde im Rahmen des Prozesses der Zehn verhandelt. Kadijew vertrat sich selbst, forderte die Abberufung des Staatsanwalts und der Richter und hielt eine bewegende Verteidigungsrede, in der er die Anklage minutiös zurückwies. Am 5. August 1969 wurde er zu drei Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Seine Haftstrafe verbüßte er in einem Gefangenenlager für kriminelle Straftäter. Seine aufrechte Haltung während des Prozesses, aber auch seine wissenschaftlichen Leistungen und sein Ruf als einer der am besten ausgebildeten Aktivisten der Nationalbewegung trugen dazu bei, dass er den Krimtataren Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre als Nationalheld galt.
Nach seiner Entlassung aus der Haft im Oktober 1971 setzte Kadijew sein Engagement fort. 1977 war er an der Abfassung der Kassationserklärung beteiligt, mit der die Aufhebung aller die Krimtataren diskriminierenden Rechtsakte gefordert wurde. Zusammen mit anderen Vertretern des Volkes bemühte er sich im August 1978 in Moskau um eine offizielle Stellungnahme der Regierung zu diesem Dokument.

Im April 1979 fand erneut eine Wohnungsdurchsuchung bei Kadijew statt. Auf einer Versammlung an der Physikalischen Fakultät seiner Hochschule im September wurde ihm „ein strenger Tadel und eine letzte Verwarnung wegen unwürdiger Verhaltensweisen und Äußerungen, die mit dem Anspruch an einen sowjetischen Pädagogen nicht vereinbar“ seien, erteilt. Nachdem er im Herbst 1979 gegenüber dem Sekretär der Hochschulparteiorganisation handgreiflich geworden war, als dieser ihn in Anwesenheit von Studenten beleidigte, wurde Kadijew am 28. November 1979 unter dem Vorwurf „notorischen Rowdytums“ verhaftet und am 4. Januar 1980 zu drei Jahren Haft verurteilt. Wiederholt, aber letztlich erfolglos, setzte sich auch Andrei Sacharow für ihn ein. Kadijew wurde in ein Strafgefangenlager in der ASSR der Komi gebracht. 1982 kam er vorzeitig frei, wurde jedoch mit einem Lehrverbot belegt und arbeitete fortan als Laborant. Seine wissenschaftliche Arbeit setzte er dennoch fort und verteidigte seine Doktorarbeit erfolgreich.

In der Zeit der Perestroika engagierte sich Kadijew in der Nationalbewegung der Krimtataren und nahm an der Audienz im Kreml im Sommer 1987 teil. 1988 initiierte er an der Universität Samarkand den Diskussionsklub „Initiative“. Er verfasste das Statut und das Programm des Klubs, war Mitglied des Vorstands und leitete die Versammlungen.

In seinen letzten Lebensjahren brach Kadijew mit der Führung der Nationalbewegung. Die Schaffung neuer Organisationsstrukturen – wie die Zentrale Initiativgruppe und die Organisation der Nationalbewegung der Krimtataren – lehnte er ab. Allzu energische Bemühungen zur Wiederherstellung der Rechte der Krimtataren hielt er für überflüssig. Die Verfechter einer solchen Vorgehensweise bezeichnete er als Extremisten, die nur die konservativen Kräfte in der KPdSU provozieren würden, von der Perestroika abzurücken. Seine Position in dieser Frage begründete er in mehreren Artikeln, die als Broschüre unter dem Titel „Unsere Krankheiten – kritische Anmerkungen zu unserer nationalen Frage“ (Naši bolezni – kritičeskije zametki po našemu nacjonalnomu voprosu) im Samisdat erschienen. Hier plädierte er dafür, die Ziele der Nationalbewegung auf dem Weg des Kompromisses zu verfolgen.

Rollan Kadijew starb am 15. Mai 1990 bei einer Operation in einem Krankenhaus in Samarkand. Er wurde in Samarkand begraben.

Dilara Assanowa, Elwedin Tschubarow
Aus dem Polnischen von Gero Lietz
Letzte Aktualisierung: 10/20