Ukraine

Jossyf Sissels

Jossyf Sissels, geboren 1946

Josyf Zisel’s

Йосиф Зісельс

Jossyf Sissels wurde 1946 in Taschkent geboren, 1948 zog die Familie von Usbekistan in die Westukraine, nach Tscherniwzi. Sissels wuchs im politischen „Tauwetter“ der Chruschtschow-Ära auf. Bereits 1962 kam er in Kontakt mit dem Samisdat. 1969 schloss er sein Studium am Lehrstuhl für Theoretische Physik der Physikalisch-Mathematischen Fakultät der Universität Tscherniwzi ab. 1969–70 diente er als Soldat in der Baltischen Flotte der Sowjetischen Kriegsmarine, ehe er ab April 1971 eine Anstellung als technischer Ingenieur beim Rundfunk in Tscherniwzi fand.

Ab Ende 1970 begann er, Menschen bei ihrer Ausreise nach Israel zu unterstützen. Dreimal wurde er dabei von Grenztruppen nahe der Stadt Tschop in den Karpaten festgenommen. Im August 1972 folgte sein Ausschluss aus dem Komsomol, nachdem er sich auf einer Gewerkschaftsversammlung für einen Kollegen eingesetzt hatte, der einen Ausreiseantrag nach Israel gestellt hatte.

1973–76 engagierte sich Sissels bei der Weiterverbreitung von Samisdat-Erzeugnissen. Er fand Anschluss an einen Kreis ausreisewilliger Baptisten. Während einer Wohnungsdurchsuchung bei einer Bekannten wurden eine Fotokopie des ersten Bandes von „Archipel Gulag“ sowie weitere unabhängige Schriften beschlagnahmt, die als Sissels Eigentum identifiziert wurden. Der örtliche KGB verhörte ihn 27 Stunden, Sissel weigerte sich jedoch, auf die ihm gestellten Fragen zu antworten. Nach seiner Entlassung stand er unter ständiger Beobachtung des KGB, sein Telefon wurde abgehört, seine Post kontrolliert.

Im Februar 1977 wurde auf Grundlage des Dekrets des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 25. Dezember 1972 eine offizielle Verwarnung gegen Sissels ausgesprochen. Sollte er seine „antisowjetische Tätigkeit“ fortsetzen, drohte ihm damit strafrechtliche Verfolgung. Den Vorschlag, aus der UdSSR auszureisen, lehnte er ab. Auch das Protokoll über die gegen ihn ausgesprochene Verwarnung unterschrieb er nicht. 1977 und 1978 knüpfte er Kontakte zu Dissidentenkreisen in Kiew und Moskau. Er war unter anderem für die „Chronik der laufenden Ereignisse“ tätig und arbeitete mit der Ukrainischen Helsinki-Gruppe, der Moskauer Helsinki-Gruppe, den jüdischen Otkazniki aus Moskau und Tscherniwzi sowie mit dem Hilfsfonds für politische Häftlinge und ihre Familien zusammen. Für die Arbeitskommission zur Erforschung des Einsatzes der Psychiatrie zu politischen Zwecken recherchierte er detaillierte Informationen, unter anderem zur Psychiatrischen Spezialklinik Dnipropetrowsk.

Im August 1978 wurde Sissels inoffizielles Mitglied der Ukrainischen Helsinki-Gruppe (offiziell trat er der Gruppe im Oktober 1979 bei). Er sammelte Informationen über Personen, die widerrechtlich in psychiatrischen Anstalten festgehalten wurden. Gemeinsam mit seiner Frau unterstützte er die Familien politischer Gefangener. Am 10. November 1978 wurde seine Wohnung zwölf Stunden lang durchsucht. Formeller Vorwand war die Suche nach pornografischem Material im Zusammenhang mit Ermittlungen gegen seinen Schwager. Bei dieser Gelegenheit konfiszierten die Behörden viele Untergrundschriften, ein Häftlingsregister psychiatrischer Einrichtungen (rund 80 Karteikarten) sowie eine Liste mit den Namen jüdischer Otkazniki. Am 8. Dezember wurde seine Wohnung erneut durchsucht. Diesmal nahmen die Behörden unter anderem Protokolle von Komsomol-Versammlungen mit, auf denen Sissels an den Pranger gestellt worden war. Beschlagnahmt wurden auch 24 Fotos von Dissidenten. Unmittelbar nach der Wohnungsdurchsuchung nahm ihn die Miliz ohne Haftbefehl mit auf die Wache und hielt ihn dort fest. Am 9. Dezember kam er in Untersuchungshaft.

Am 5. April 1979 verurteilte ihn das Bezirksgericht Tscherniwzi nach Artikel 187, Paragraf 1 Strafgesetzbuch der Ukrainischen SSR (entspricht Artikel 190, Paragraf 1 Strafgesetzbuch der RSFSR) zu drei Jahren Straflager unter verschärften Haftbedingungen. Noch aus der Untersuchungshaft war es ihm mit Hilfe seiner Frau gelungen, Angaben über 37 Opfer der Zwangspsychiatrie aus dem Gefängnis zu schleusen. Diese Angaben befanden sich in seinen Ermittlungsakten. Er kam in das Straflager Sokyrjany im Bezirk Tscherniwzi. Aufgrund eines Magengeschwürs, wurde er nach einiger Zeit von der Arbeit im Bergwerk freigestellt und leichteren Arbeiten zugeteilt.

Nach seiner Haftentlassung im Dezember 1981 kehrte Sissels nach Tscherniwzi zurück. Dort reaktivierte er seine Kontakte zur Ukrainischen Helsinki-Gruppe, zur Arbeitskommission zur Erforschung des Einsatzes der Psychiatrie zu politischen Zwecken sowie zur jüdischen Bewegung in Moskau. Er organisierte Unterstützung für die Familien politisch Verfolgter und wirkte an der Entstehung einer Hebräisch-Lerngruppe sowie an der Erarbeitung von Hebräisch-Lehrbüchern mit. Zweimal besuchte er politisch Verfolgte an ihren Verbannungsorten in Kasachstan.

Am 19. Oktober 1984 wurde Sissels erneut verhaftet. Während einer Wohnungsdurchsuchung waren viele Untergrundschriften beschlagnahmt worden. Die Gerichtsverhandlung fand am 10. April 1985 in Sokyrjany statt. Erneut wurde er nach Artikel 187, Paragraf 1 Strafgesetzbuch der Ukrainischen SSR (entspricht Artikel 190, Paragraf 1 Strafgesetzbuch der RSFSR) zu drei Jahren Lagerhaft verurteilt. Als Zeugen der Anklage traten Häftlinge auf, mit denen er seine erste Lagerstrafe verbüßt hatte. Ein Schuldeingeständnis lehnte er ab.

Inhaftiert war Sissels zunächst in Lwiw, später in Nischni Tagil im Ural. Im Januar 1987 lehnte er den (im Zuge der „Gorbatschow-Amnestie“) von der Staatsanwaltschaft unterbreiteten Vorschlag ab, im Austausch für eine Verkürzung der Haftstrafe fortan auf politische Betätigung zu verzichten. Am 19. Oktober 1987 wurde er schließlich entlassen und kehrte nach Tscherniwzi zurück, wo er als Elektriker arbeitete. Ein weiteres Jahr stand er unter behördlicher Beobachtung.

Sein Engagement in der Ukrainischen Helsinki-Gruppe (später in der Ukrainischen Helsinki-Union) führte er fort. Er war in der Volksbewegung der Ukraine aktiv und gründete dessen Nationalitätenrat. Darüber hinaus wirkte an der Entstehung mehrerer jüdischer Vereine mit. Im Dezember 1989 wurde Sissels Ko-Vorsitzender der Konföderation jüdischer Organisationen und Gemeinden in der UdSSR und ist seit 1991 Vorsitzender der Assoziation Jüdischer Organisationen und Gemeinden in der Ukraine „WAAD“. Immer wieder äußert er sich zu aktuellen politischen Themen. Er war und ist Mitglied in zahlreichen nationalen und internationalen jüdischen Verbänden im In- und Ausland. Für sein Engagement erhielt er mehrere Auszeichnungen, unter anderem den ukrainischen Tapferkeitsorden Erster Klasse (2006). Sissels lebt in Kiew.

Sofija Karassyk
Aus dem Polnischen von Gero Lietz
Letzte Aktualisierung: 09/20