Russland

Anatoli Martschenko

Anatoli Martschenko, 1938–86

Anatolij Tichonovič Marčenko

Анатолий Тихонович Марченко

Menschenrechtsaktivist, Samisdat-Autor, langjährige Lagerhaft und Verbannung aus politischen Gründen.

Anatoli Martschenko wurde am 23. Oktober 1938 im sibirischen Barabinsk geboren. Seine Eltern arbeiteten bei der Eisenbahn, sein Vater als Arbeiter und seine Mutter als Reinigungskraft. Beide waren Analphabeten. Martschenko selbst schloss nach acht Jahren die Schule ab. Er arbeitete zunächst in einem Wasserwerk, später im Bergbau und trat dem Komsomol als Mitglied bei.

Das erste Mal wurde Martschenko Ende der 50er Jahre nach einer Prügelei in einem Arbeiterheim verhaftet und zu zwei Jahren Haft verurteilt. Ein gescheiterter Fluchtversuch in den Iran 1960 wurde mit sechs Jahren Freiheitsentzug geahndet. Während seiner Haft machte Martschenko die Bekanntschaft von ebenfalls inhaftierten Intellektuellen. Er lernte unter anderem Juli Daniel kennen, der ihm Kontakte in Moskau vermittelte, an die er sich nach seiner Haftentlassung 1966 wandte. Dazu zählte auch Larissa Bogoras, bei der er wohnen konnte, obwohl er keine Aufenthaltserlaubnis für Moskau besaß, und mit der er später liiert war. 1973 heirateten Martschenko und Bogoras und hatten ein gemeinsames Kind.

Das große Interesse an seinen Lagererfahrungen im dissidentischen Umfeld, in dem er sich nun bewegte, veranlassten Martschenko 1967 ein Buch über seine Haft zu schreiben, das bald im Samsidat unter dem Titel „Meine Aussagen“ (Moi pokazanija) kursierte. Er beschrieb die schlechte Ernährung, den Hunger, die Misshandlungen durch die Aufseher und die schwere Zwangsarbeit. Gleichzeitig ging er auch auf die enge und gute Häftlingsgemeinschaft ein, beschrieb Überlebensstrategien und die Bemühungen der Gefangenen um ein menschenwürdiges Leben unter Lagerbedingungen. Auch im Westen stießen seine Schilderungen auf großes Interesse. So wurden Auszüge wurden 1969 im Wochenmagazin „Der Spiegel“ veröffentlicht. Das Erscheinen des Buchs, als dem ersten schriftlichen Zeugnis über die poststalinistischen Lager, gilt in der Geschichte der Dissidentenbewegung als wichtiges Ereignis, und bewog immer mehr Menschen, sich für politische Gefangene zu engagieren. Damit wurde auch Martschenko selbst zu einer zentralen Figur der dissidentischen Protestbewegung. In „Die Zeit“ wurde er als „tapferer und selbstloser Verteidiger der Menschenrechte“ beschrieben.

Als inzwischen bekannter Oppositioneller verfasste Martschenko im Juli 1968 einen offenen Brief an die tschechoslowakische Bevölkerung, in dem er sie vor der Gefahr einer sowjetischen Invasion warnte. Weil er gegen das Aufenthaltsverbot in Moskau verstoßen hatte, wurde er im August 1968 verhaftet und zu einem Jahr Lagerhaft verurteilt. Während dieser Zeit folgte eine zweite Anklage, in dem man ihm seine Samisdat-Veröffentlichungen zur Last legte, aufgrund derer er zu zwei weiteren Jahren Freiheitsentzug verurteilt wurde. Martschenkos Leben bestand aus einem ständigen Wechsel von Haftentlassungen und erneuten Verhaftungen. Insgesamt stand er sechs Mal vor Gericht und verbrachte 19 Jahre seines Lebens in Gefangenschaft. Auch darüber hinaus hatte er mit staatlichen Repressionen zu kämpfen,wie beispielsweise der mutwilligen Zerstörung seiner Datscha.

Der KGB bot Martschenko und seiner Frau Larissa Bogoras mehrmals eine Ausreise nach Israel an, ein Ansinnen, das Martschenko mit dem Hinweis, ihm fehle ein jüdischer Hintergrund, jedoch verwarf. Stattdessen setze er sich auch während seiner Haftzeit für Bürger- und Menschenrechte ein und bestand darauf, seine Überzeugungen öffentlich kundzutun und lehnte jeglichen Widerruf ab. Lew Kopelew beschrieb Martschenko als „selbstlosen, tapferen und opferbereiten Idealisten“.

Zum letzten Mal kam Martschenko 1981 in Haft, nachdem er unter dem Vorwurf „antisowjetischer Agitation und Propaganda“ zu 15 Jahren Freiheitsentzug verurteilt worden war. Inkriminiert wurde sein 1976 erschienener Bericht „Von Tarussa nach Tschuna“ (Ot Tarusy do Čuny), in dem er seine Verbannungszeit in Tarussa nach seiner Haftentlassung 1971 beschrieben hatte. In einem Brief, der aus dem Gefängnis geschmuggelt und im Westen veröffentlicht wurde, kündigte Martschenko 1986 einen Hungerstreik an. Er forderte seine Frau und seinen Sohn sehen zu dürfen, was ihm zwei Jahre lang verweigert worden war, und bat die Moskauer Helsinki-Gruppe, deren Gründungsmitglied er war, um Unterstützung. Mit der Forderung nach Freilassung aller in der UdSSR inhaftierten politischen Gefangenen trat er im August 1986 in den Hungerstreik und protestierte gegen die bald eingeleitete Zwangsernährung. Nach 117 Tagen brach er den Hungerstreik an und wurde wenige Tage danach ins Gefängniskrankenhaus verlegt.

Anatoli Martschenko starb am 8. Dezember 1986 im Gefängnis von Tschistopol, offiziellen Angaben zufolge an einer Gehirnblutung. Die genauen Todesumstände sind bis heute ungeklärt.

Antonia Schönfeld
Der Text entstand 2019 im Rahmen eines Seminars an der Universität Bremen unter Leitung von Prof. Dr. Susanne Schattenberg (Forschungsstelle Osteuropa).
Letzte Aktualisierung 03/20