Russland

Raissa Orlowa

Raissa Orlowa, 1918–89

Raisa Davydovna Orlova-Kopeleva

Раиса Давыдовна Орлова-Копелева

Amerikanistin, Schriftstellerin, Übersetzerin, Brückenbauerin zwischen Deutschland und der UdSSR

Raissa Orlowa wurde 1918 in Moskau in einer wohlhabenden Familie geboren. Ihre Mutter war Zahnärztin, ihr Vater arbeitete im Volkskommissariat für Ernährung, wechselte später zum Staatsverlag Gosisdat und in das Eisenbahnministerium der UdSSR. Er war mit dem Schriftsteller Maxim Gorki bekannt. Von ihrer Mutter war Orlowa schon früh an die Literatur und Werke von Alexander Puschkin, Michail Lermontow, Nikolai Nekrassow und Charles Dickens herangeführt worden. Sie wuchs als begeisterte Kommunistin auf und war bis zu ihrem 35. Lebensjahr überzeugte Anhängerin des sowjetischen Systems.

1935–40 studierte Orlowa Anglizistik und Amerikanistik in Moskau. Ihre Faszination für die amerikanische Literatur bestimmte später ihr schriftstellerisches Schaffen: Sie schrieb über Jack London, Harriet Beecher-Stowe, Mark Twain und viele andere. Ihr größtes Interesse galt allerdings dem als „Vater des russischen Sozialismus“ bekannten russischen Emigranten Alexander Herzen (1812-70), über den sie promovierte und mehrere Bücher veröffentlichte. Nach ihrem Studium leitete sie das anglo-amerikanische Ressort der Allunionsgesellschaft für kulturelle Verbindung mit dem Ausland (VOKS). 1951 promovierte Orlowa am Moskauer Institut für Weltliteratur. Anschließend arbeitete sie als Dozentin in Tallinn und Moskau. Ab 1955 leitete sie die Abteilung Literaturkritik bei der Zeitschrift „Inostrannaja literatura“ (Ausländische Literatur), die in geringer Auflage Übersetzungen literarischer Texte aus dem Ausland druckte, die in der Sowjetunion schwer erhältlich waren.

1956 heiratete Orlowa Lew Kopelew, der gerade aus siebenjähriger Lagerhaft entlassen worden war. Sie hatten sich bereits 1940 kennengelernt, waren zu diesem Zeitpunkt jedoch beide verheiratet. Für Orlowa war es bereits die dritte Ehe: Ihr erster Mann fiel kurz nach Beginn des Zweiten Weltkriegs. Ihre zweite Ehe scheiterte aufgrund der Alkoholabhängigkeit ihres Mannes. Orlowa und Kopelew brachten jeweils zwei Töchter mit in die Ehe und lebten fortan gemeinsam in Moskau. Nach Beendigung ihrer Tätigkeit für die „Inostrannaja literatura“ wurde Orlowa 1961 freischaffende Schriftstellerin. Sie betätigte sich als Übersetzerin und Kommentatorin, verfasste eigene Texte und hielt Vorträge.

Orlowa und Kopelew waren überzeugte Humanisten, die sich für Toleranz und die Einhaltung der Menschenrechte einsetzten. Ihre Wohnung stand Freunden und Hilfesuchenden offen; ihre Küche wurde zum Ort der Diskussion über Literatur, Politik und Philosophie. Während sich ihr Mann ab Mitte der 60er Jahre verstärkt für Andersdenkende wie Andrei Sacharow, Juli Daniel und Andrej Sinjawski einsetzte und 1968 den Einmarsch von Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei scharf kritisierte, blieb Orlowa in stiller Übereinkunft mit ihrem Mann mit ihrer kritischen Haltung im Hintergrund. Nach seinem Parteiausschluss und und Verlust des Arbeitsplatzes verdiente sie das Familieneinkommen. Zugleich engagierte sie sich im Verborgenen und organisierte materielle Hilfe für unter Druck geratende oder inhaftierte Andersdenkende.

1980 erhielt das Ehepaar Orlowa-Kopelew eine Ausreisegenehmigung in die Bundesrepublik Deutschland. Vorausgegangen war die Einladung des gemeinsamen Freundes Heinrich Böll und der Einsatz Willy Brandts und Egon Bahrs, die den geplanten einjährigen Studienaufenthalt des Ehepaars sehr unterstützten. Aus Angst vor der Ausbürgerung weigerte Orlowa sich zunächst, mit ihrem Mann zu fahren, der ohne sie die lang erhoffte Reise jedoch nicht antreten wollte. Obwohl die sowjetische Regierung Brandt versichert hatte, das Ehepaar würde nach dem einjährigen Studienaufenthalt nach Moskau zurückkehren können, erreichte die beiden nach zwei Monaten in Köln, ihrem ersten Reiseziel, ein Brief, der die wohl prägendste Zäsur in ihrem Leben darstellte: Ihnen war die sowjetische Staatsbürgerschaft entzogen worden und eine Rückkehr in die UdSSR damit nicht mehr möglich.

Während ihrem Mann, der Germanist war und seit seiner frühen Kindheit fließend Deutsch sprach, die Eingewöhnung relativ leichtfiel, war die Emigration für Orlowa ein schwerer Schlag. Im Alter von 62 Jahren musste sie eine neue Sprache lernen und sich in einem ungewohnten Alltag zurechtfinden. Die erlebte Herabsetzung von einer anerkannten, unabhängigen Amerikanistin zu der nur an der Seite von Lew Kopelew wahrgenommenen Ehefrau empfand sie als besonders belastend. Aufgrund fehlender Sprachkenntnisse fand sie anfangs keine Arbeit und war daher sehr von ihm abhängig. Im Dezember 1980 schrieb sie: „In meinem ganzen langen Leben war ich noch nie so vollkommen und für mich so unerträglich abhängig − von der Sprache, vom Geld, durch das Fehlen der Arbeit, das Fehlen meiner Umgebung, ohne die die anderen auskommen, aber ich kann es nicht und werde es nie können. Ich klage und weine; ganz seltene Minuten von Freude, wie gestern an der Elbe. Und von morgens bis nachts muss ich mir vorsagen: ‚Untersteh dich, dich selbst zu bemitleiden.‘“ (Tagebucheintrag aus dem Buch „Wir lebten in Köln“.)

Orlowa und Kopelew, die zu Beginn ihres Aufenthalts in der Bundesrepublik alle politischen Statements gemieden hatten, um der sowjetischen Regierung keinen Grund für eine Ausbürgerung zu liefern, wurden zu wichtigen Personen der bundesdeutschen Öffentlichkeit. Orlowa lernte Deutsch, gab zahlreiche Interviews und publizierte 1983 ihr erstes Buch über ihre Erfahrungen in Deutschland „Die Türen öffnen sich langsam“. Das Werk ist geprägt von tiefgründigen Beobachtungen über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede des alltäglichen Lebens in Moskau und Köln und vermeidet schablonenhaftes Schwarz-Weiß-Denken. Stattdessen bemühte sich Orlowa, deutsche und russische Leser für ihr Gegenüber zu sensibilisieren und die Kulturen einander näherzubringen. In den folgenden Jahren schrieb sie weitere autobiographische Bücher, einige davon zusammen mit ihrem Mann. Hier setzte sie sich vor allem mit ihrer Vergangenheit als begeisterte Stalinistin auseinander. 1983 sagte sie in einem Interview mit der Wochenzeitung „Die Zeit“: „Ich war lange Zeit eine absolut gläubige Kommunistin [...] es gab Zweifel und Fragen, aber die Antworten anderer Leute waren stärker. Was dann nach Stalins Tod geschah, war wie ein Erdbeben. Ich musste einen neuen Weg finden.“ Orlowa beeindruckte mit Ehrlichkeit und Offenheit, mit der sie sich selbst und anderen begegnete.

In Deutschland führte die Amerikanistin Orlowa nicht mehr Russen an amerikanische Literatur heran, sondern brachte immer häufiger Deutschen die russische Literatur näher. Während ihrer letzten Lebensjahre war sie vor allem schriftstellerisch tätig, hielt Vorträge und reiste mit ihrem Mann durch Europa und in die USA. 1987 wurde bei ihr eine Krebserkrankung festgestellt. Intensive Behandlungen hielten sie davon ab, weiterhin aktiv am öffentlichen Leben teilzunehmen. Im Frühjahr 1989 wurde ihr eine Besuchsreise in die Sowjetunion genehmigt, bei der sie ein letztes Mal ihre Heimat sehen und ihre Familie, Freunde und Verwandte treffen konnte.

Raissa Orlowa starb am 31. Mai 1989 in Köln. 1990 wurde ihr posthum die sowjetische Staatsbürgerschaft wieder zuerkannt. Ebenso Lew Kopelew, der jedoch weiterhin in Köln blieb und 1996 die gemeinsamen Memoiren der Eheleute „Wir lebten in Köln“ publizierte, die beide zusammen bereits vor Orlowas Erkrankung begonnen hatten. Über ihr Wirken sagte der Fernsehreporter und gute Freund des Ehepaars Klaus Bednarz: „Eines Tages wird die Geschichte des freien russischen Wortes geschrieben, die Geschichte der Literatur und der Geist eines anderen Russlands. Ein Russland, das in den 60er und 70er Jahren einem System widerstand, das Menschen unterdrückt und verachtet hat. Und in dieser Geschichte wird die Küche an der Krasnoarmejskaja-Straße einen besonderen Platz einnehmen. Sie war der zentrale Treffpunkt des geistigen Lebens Moskaus. Raissa Orlowa war eine Patriotin Russlands und gleichzeitig eine Weltbürgerin. Als ihr das Recht, in ihrer Heimat zu leben, entzogen wurde, hat sie ihr Russland nach Deutschland mitgenommen und das hier vor uns vorgestellt.“

Paula Reinhardt, Roman Uzbekov
Der Text entstand 2019 im Rahmen eines Seminars an der Universität Bremen unter Leitung von Prof. Dr. Susanne Schattenberg (Forschungsstelle Osteuropa).
Letzte Aktualisierung 03/20