Auch im politischen Tauwetter der Chruschtschow-Ära blieb die Situation für die belarussische Nationalbewegung schwierig. Der Wiederaufbau der Wirtschaft seit 1944 und die intensive Urbanisierung, die damit einherging, hatten in den Städten zu einer nationalen Durchmischung der Bevölkerung geführt. Auf die Großbaustellen strömten Arbeiter aus der gesamten UdSSR, während die belarussischen Bauern, die keinen Personalausweis besaßen, ihr Dorf nur mit einer entsprechenden behördlichen Genehmigung verlassen durften. Die ohnehin schwach ausgebildete nationale Befreiungsbewegung wurde vollständig zerschlagen. Einige ehemalige Köpfe der Bewegung, die die stalinistischen Lager überlebt hatten, waren nach ihrer Rückkehr neuen Unterdrückungsmaßnahmen ausgesetzt. Sie blieben ohne Arbeit, ihre Bürgerrechte wie auch ihre Bildungsmöglichkeiten wurden eingeschränkt. Da sie in Sibirien, im Ural, in Nordrussland oder in den liberal geprägten baltischen Republiken bessere Lebensbedingungen fanden, kehrten viele ehemalige Untergrundaktivisten (beispielsweise der Jugendorganisationen) Belarus den Rücken.
Eine chronologische Gliederung der poststalinistischen Oppositionsbewegung in Belarus ist schwierig, da sich einzelne Etappen überlagerten. Trotzdem lassen sich vier Phasen bestimmen: 1956 bis Ende der 60er Jahre: Einzelproteste als Hauptform des Widerstands; Mitte der 60er Jahre bis Ende der 70er Jahre: Formierung oppositioneller Strukturen – die Proteste in Belarus wurden in einen gesamtsowjetischen Zusammenhang gestellt (dieser Prozess erfolgte vor allem im Kontext der Ereignisse des *Prager Frühlings); 70er Jahre: Entstehung und Institutionalisierung einer jugendlichen Subkultur; AB Mitte der 80er Jahre: Aktivierung und Legalisierung der belarussischen Dissidentenbewegung. Die Opposition wurde zur Massenbewegung.
Charakteristisch für die belarussische Dissidentenbewegung war ihre national-kulturelle Prägung. Vorherrschend war das kulturelle Element. Es ist kein Zufall, dass zur Bezeichnung nonkonformistischer gesellschaftlicher Aktivitäten in Belarus auch der Begriff *Kulturelle Opposition Verwendung fand. Damit wurde der Fokus auf die kulturelle Wiedergeburt und die Bewahrung der Tradition unterstrichen, ohne dabei eindeutig politische Ziele zu formulieren. Zugleich distanzierte man sich von Problemen, wie sie für die Menschenrechtsbewegung typisch waren. Dies war auch die Ursache dafür, dass die Kontakte der belarussischen Dissidenten zu oppositionellen Kreisen in Russland, der Ukraine und den baltischen Ländern nur schwach ausgeprägt und eher sporadisch waren. Über die Grenzen der UdSSR hinaus gelangten Informationen über unabhängige Kreise in Belarus nur selten. Kennzeichnend für die Bewegung war darüber hinaus die relativ geringe Zahl öffentlicher Verlautbarungen sowie das Fehlen eines breiteren gesellschaftlichen Echos auf Aktivitäten der Dissidenten.
Gründe für die Schwäche der Opposition sind in der bereits erwähnten Nationalitätenstruktur belarussischer Städte zu suchen, durch die die Dissidenten ihren Rückhalt in der Gesellschaft verloren. Der Zustrom der Landbevölkerung in die Städte seit den frühen 60er Jahren bedeutete keine Erleichterung für die Arbeit oppositioneller Kreise. In den Städten gelang es den Dorfbewohnern nicht, belarussische Traditionen fortzuführen. Vielmehr war ihre Übersiedelung in die Städte nicht selten mit einer Abkehr von einstigen Werten verbunden. Häufig waren sie geneigt, ihre Muttersprache und überlieferte Traditionen zu verwerfen und übernahmen die zwar nicht offizielle, aber verbreitete These, wonach alles Belarussische, dem „fehlende Kultur“ nachgesagt wurde, als „rückständig“ galt. Das wichtigste Ziel der Zugezogenen war es, sich um jeden Preis in der neuen städtischen Umgebung einzurichten. An Problemen, die über das Alltägliche hinausgingen, waren nicht einmal diejenigen interessiert, die über einen höheren Bildungsabschluss verfügten. Für die nationalbewusste belarussische Intelligenz hatte daher der Kampf um die Bewahrung der belarussischen Sprache und um nationale Traditionen sowie die Wiederherstellung des historischen Gedächtnisses oberste Priorität. Politische Ziele und Bürgerrechtsfragen hingegen gerieten in den Hintergrund. Verfolgungsmaßnahmen, Krieg und Massenmigration führten zudem zu einem Bruch zwischen den Generationen. Konnten ukrainische und litauische Dissidenten in den 60er und 70er Jahren auf die Erfahrungen der aktiv in der Widerstandsbewegung der Nachkriegszeit Beteiligten zurückgreifen, hatten die belarussischen Dissidenten solche Kontakte nicht. In ihrem Kampf mussten sie praktisch ganz von vorn anfangen.
Neben (den wenigen) öffentlichen Verlautbarungen national-kultureller Prägung kam es in Belarus auch zu Aktionen, die in ihrer Form denen in anderen Teilen der Sowjetunion glichen. So riefen im November 1956, im Zuge der *Ungarischen Revolution, fünf Aktivisten in Homel die Freiheitspartei des Russischen Volkes ins Leben. Die Gruppierung erarbeitete ein vorläufiges Statut und ein Programm, in dem die führende Rolle der KPdSU abgelehnt und die Wiedereinführung des Privateigentums gefordert wurde. Die Aktivisten, die sich selbst als Russen und Belarus als russische Provinz betrachteten, planten Waffensammlungen, die Verteilung von Flugblättern und die Ausstrahlung von Radiosendungen im Untergrund. Nach zwei Monaten wurde die Organisation enttarnt und ihre Mitglieder wurden verhaftet. Als gesamtsowjetisch kann auch die Reaktion eines Teils der belarussischen Intellektuellen auf die Ereignisse des *Prager Frühlings im Jahre 1968 und den *Einmarsch von Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei betrachtet werden. So verurteilte Fjodar Jafimau auf einer Parteiversammlung die Einmischung der Sowjetunion in die inneren Angelegenheiten der Staaten Mitteleuropas. Daraufhin wurde er aus der Partei ausgeschlossen und mehrere Jahre lang verfolgt. Protest artikulierten auch Mikola Jakimowitsch, Robert Luchzikau und Anatol Sidarewitsch.
Für Menschenrechtsfragen engagierte sich in Belarus der Arbeiter Michas Kukabaka (Michail Kukobaka). Er schrieb für Untergrundverlage und pflegte in den 70er Jahren enge Kontakte zu Moskauer Dissidentenkreisen. Kukabaka widersetzte sich in aller Offenheit dem sowjetischen System und verurteilte den *Einmarsch von Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei. 1970 wurde er verhaftet und zwangsweise in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen. Insgesamt sechs Jahre verbrachte er in psychiatrischen Kliniken in Sytschowka und Wladimir. In den Jahren 1977 und 1978 veröffentlichte er im Samisdat Beiträge über die Russifizierung in Belarus. Kukabaka sammelte Material über den Missbrauch der Psychiatrie als politische Unterdrückungsmaßnahme in der UdSSR und veröffentlichte Briefe an die obersten Organe des Landes, in denen er gegen Menschenrechtsverletzungen protestierte. Ende der 70er Jahre wurde er erneut inhaftiert und am 2. Dezember 1988 als einer der letzten politischen Gefangenen aus der Haft entlassen.
Belarus, wo Juden auch nach dem Krieg einen relativ großen Anteil der Bevölkerung stellten, war in den 70er Jahren eines der Zentren der jüdischen Ausreisebewegung der sogenannten *Otkazniki. In Minsk kämpfte Oberst Jefim Dawidowitsch vier Jahre lang um ein Ausreiserecht für sich und seine Familie nach Israel. Dawidowitschs Beerdigung 1976 wurde zu einer großen Manifestation der Minsker *Otkazniki. Es handelte sich um den einzigen bekannt gewordenen öffentlichen Protest in Belarus vor 1983.
Besondere Erwähnung verdienen auch die Aktivitäten religiöser Organisationen, insbesondere der römisch-katholischen Kirche. Obwohl der Katholizismus in Belarus, anders als in Litauen, nicht vorherrschend war und wesentlich auch von der polnischen Minderheit geprägt wurde, hatte die Existenz einer starken katholischen Bevölkerungsgruppe (besonders in den westlichen Regionen) erheblichen Einfluss auf die Herausbildung einer belarussischen Identität und war auch im Kampf gegen die Russifizierung des Landes von Bedeutung. Zu den bekanntesten Vertretern der katholischen Geistlichkeit in Belarus gehörten die polnischstämmigen Priester Wazlau Pjantkouski (Wacław Piątkowski) und Kasimir Swjontak (Kazimierz Świątek). Mit ihrer seelsorgerischen Tätigkeit, die oft die Grenzen des Erlaubten überschritt, erregten sie das Missfallen der Staatsmacht. Für viele sind die beiden Priester zu einem Symbol geistiger Unabhängigkeit geworden. Das Engagement der römisch-katholischen Kirche in Belarus beinhaltete zwei Ebenen: einerseits den in der Kirche weitverbreiteten Widerstand gegen das Diktat des Sowjetstaates und andererseits Aktivitäten, die lediglich für die national-demokratische Opposition in Belarus charakteristisch waren. In ähnlicher Weise agierte die griechisch-katholische Kirche (unter anderem engagierte sich der Priester Wiktar Danilau). Die oppositionelle Tätigkeit der protestantischen Kirche in Belarus und der orthodoxen „Katakomben-Gemeinden“ war hingegen nicht spezifisch national geprägt.
Die belarussische Kultur unterlag einer zunehmenden Russifizierung. Anfang der 30er Jahre wurde eine Rechtschreibreform verfügt, deren Ziel die Angleichung der belarussischen und russischen Sprache war. In der Folge kam es zu einer parallelen Verwendung mehrerer grammatisch-orthografischer Regelwerke. Die demokratisch gesinnte Intelligenz bediente sich in der Regel der sogenannten Taraschkewiza (Taraškevica), benannt nach Branislau Taraschkewitsch, dem Autor eines der ersten Grammatiklehrbücher des Belarussischen. Offizielle Stellen hingegen richteten sich nach der vom Rat der Volkskommissare der Belarussischen SSR eingeführten „Narkamauka“ (Narkаmаŭka), benannt nach der Kurzform „Narkamat“ für „narodny kamisaryjat“ (Volkskommissariat). Heute ist die Verwendung der von oppositionellen Kreisen bevorzugten Taraschkewiza offiziell mit einem Tabu belegt.
Die 20er und 30er Jahre standen im polnischen wie auch im sowjetischen Teil des Landes im Zeichen eines erbitterten Kampfes um nationale Werte. Jedoch gelang es, die zu Beginn des Jahrhunderts geborenen nationalstaatlichen Ideen und Traditionen in Westbelarus nicht nur zu bewahren, sondern auch weiterzuentwickeln. Der stalinistische Terror ergriff diese Gebiete erst im September 1939, als sie infolge des *Hitler-Stalin-Paktes der UdSSR einverleibt wurden.