Dichter, Literaturwissenschaftler, Übersetzer, unabhängiger Publizist, Menschenrechtsaktivist und Gründungsmitglied der Litauischen Helsinki-Gruppe.

Tomas Venclova wurde 1937 in Klaipėda geboren. Sein Vater war der Schriftsteller und Stalinpreisträger sowie erster Kulturminister der Litauischen SSR Antanas Venclova. Tomas Venclova studierte Lithuanistik an der Philologischen Fakultät der Universität Wilna. 1960 schloss er sein Studium ab und ging dann nach Moskau.

Bereits 1957 hatte Venclova angefangen zu publizieren. Während seines Studiums gab er zusammen mit Kommilitonen unter Missachtung der Zensur den Studentenalmanach „Kūryba“ (Das Schaffen) heraus, wofür er für ein Jahr der Universität verwiesen wurde. Später arbeitete er mit dem illegalen Verlag „Eglutė“ (Tanne) zusammen. 1960 sollten einige seiner Gedichte in der unabhängigen Moskauer Zeitschrift „Sintaksis“ veröffentlicht werden. 1962–72 gab er in Wilnaer Verlagen drei Bücher heraus, darunter die Gedichtsammlung „Kalbos ženklas“ (1972, Zeichen der Sprache). Ein inoffizielles kulturwissenschaftliches Seminar hatte ihm 1961 ein KGB-Verhör eingebracht. Nach seiner Rückkehr aus Moskau 1965 lehrte Venclova 1966–73 an der Universität Wilna allgemeine Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts und Angewandte Linguistik. Als einer der Ersten in Litauen wandte er sich dem Strukturalismus und der Semiotik zu, deren Studium er bei Juri Lotman an der Universität Tartu vertiefte; 1967 hielt er dort Lehrveranstaltungen zur litauischen Literatur. 1974–76 arbeitete er am Historischen Institut der Akademie der Wissenschaften der Litauischen SSR. Parallel war er 1972–76 Dramaturg am Theater in Šiauliai.

Venclova pflegte den Kontakt zu vielen russischen Dissidenten, wie Alexander Ginsburg, Joseph Brodsky und Natalja Gorbanjewskaja. Im Februar 1968 beteiligte er sich an einer Petitionskampagne für Alexander Ginsburg, Juri Galanskow, Vera Laschkowa und Alexei Dobrowolski (Prozess der Vier). Venclova verbarg seine Überzeugungen nicht und trat trotz eines gewissen Schutzes durch den Namen des Vaters in Bezug auf seine künstlerische und wissenschaftliche Karriere faktisch auf der Stelle. So wurde er nicht in den Schriftstellerverband aufgenommen, in offiziellen Verlagen erschienen seine Werke nur selten, einige Essays und Gedichte konnten nur im Samisdat veröffentlicht werden. Im Herbst 1974 wurde er zu einem Gespräch ins ZK der KP Litauens bestellt, wo er vor Kontakten mit Vertretern der Opposition gewarnt wurde.

Am 9. Mai 1975 wandte sich Venclova mit einem offenen Brief an das ZK der KP Litauens, in dem er erklärte, dass er die kommunistische Ideologie ablehne. Weiter bat er darum, gemeinsam mit seiner Familie ins Ausland ausreisen zu dürfen, da es in der UdSSR für ihn nicht möglich sei, sich mit Wissenschaft und Literatur zu beschäftigen. Dabei berief er sich auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Bei seinem Ansinnen unterstützten ihn Arthur Miller, Joseph Brodsky und andere Schriftsteller von Weltrang. Czesław Miłosz lud ihn ein, Vorlesungen an der University of California in Berkeley zu halten.

Anfang 1976 veröffentlichte Venclova in der unabhängigen Zeitschrift „Evrei v SSSR“ den Aufsatz „Juden und Litauer“ (Evrei i Litovzy). Darin forderte er ein nationales Verantwortungsbewusstsein angesichts der nicht zu leugnenden Beteiligung von Litauern am Holocaust. Im litauischen Samisdat stieß sein Aufsatz damals auf zum Teil polemische Reaktionen.

Ende November 1976 war Venclova Mitbegründer der Litauischen Helsinki-Gruppe und verfasste gemeinsam mit Viktoras Petkus und Eitan Finkelstein ihr Gründungsdokument. Im Rahmen einer Pressekonferenz der Moskauer Helsinki-Gruppe (Anfang Dezember in der Wohnung von Juri Orlow) gab Venclova zusammen mit Petkus die Gründung der Litauischen Helsinki-Gruppe bekannt. Anfang Januar 1977 wurde Venclova daraufhin ins litauische Innenministerium bestellt, wo man ihm die Ausreise aus der UdSSR nahelegte. Im Rahmen der Bekämpfung der Helsinki-Bewegung in der UdSSR war diese Entscheidung innerhalb höchster Parteigremien getroffen worden. Am 25. Januar 1977 reiste Venclova in die USA aus. Dort erklärte er, dass er sich weiterhin als Mitglied der Litauischen Helsinki-Gruppe betrachte und beabsichtige, nach Litauen zurückzukehren. Daraufhin entzog ihm das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR am 14. Juni 1977 die sowjetische Staatsbürgerschaft. Er erhielt politisches Asyl in den USA, lehrte zunächst Semiotik an der Universität in Berkeley und ab 1980 bis zu seiner Emeritierung litauische, russische und polnische Literatur an der Yale University in New Haven.

Die Gedichte Venclovas wurden in viele Sprachen übersetzt, darunter ins Englische, Deutsche, Russische, Schwedische, Polnische und Ungarische. Venclova selbst übertrug Werke aus dem Englischen, Französischen, Deutschen, Griechischen, Polnischen und Russischen ins Litauische, darunter von Thomas S. Eliot, James Joyce, St. John Perse, Alfred Jarry, Czesław Miłosz, Boris Pasternak, Ossip Mandelstam, Anna Achmatowa und Joseph Brodsky. Eine Auswahl seiner Übersetzungen sind in dem Band „Stimmen“ (Balsai, 1979) veröffentlicht.

Venclova arbeitete mit einer Vielzahl von Zeitschriften zusammen, sowohl mit litauischen („Akiračiai“ – ab 1979 war er Mitglied des Redaktionskollegiums; „Lituanus“), amerikanischen („Journal of Baltic Studies“; „New York Review of Books“; „World Literature Today“; „Slavic Review“; „American Journal of Semiotics“), deutschen („Der Monat“), schwedischen („Artes“), polnischen („Kultura“; „Zapis“) und russischen Magazinen („Sintaksis“ – ab 1982 war er Mitglied des Freundeskreises der Zeitschrift; „Strana i mir“). 1981 gab er den essayistischen Band „Litauen in der Welt (Lietuva pasaulyje) heraus. In mehreren Sprachen erschien der Dialog Tomas Venclovas mit Czesław Miłosz: „Wilna als Form des geistigen Lebens“ (Vil‘njus kak forma duchovnoj žizni; in Polen unter dem Titel „Dialog über Wilna“ / Dialog o Wilnie erschienen). Gemeinsam mit dem Politikwissenschaftler Aleksandras Štromas gab er das Buch „Politisches Bewusstsein in Litauen“ (Politinė sąmonė Lietuvoje) heraus.

In seiner Publizistik ist Venclova auch weiterhin ein konsequenter Verfechter von Liberalismus und Demokratie und polemisiert scharf gegen jede Art von aggressivem Nationalismus. In seinen literaturwissenschaftlichen und literaturkritischen Arbeiten beschäftigt er sich in erster Linie mit der litauischen Literatur, aber auch mit Aleksander Wat, Prosper Mérimée, Albert Camus, Czesław Miłosz, Alexander Solschenizyn und Joseph Brodsky.

Für sein literarisches Schaffen und gesellschaftliches Engagement wurde Tomas Venclova mit zahlreichen renommierten Preisen und Auszeichnungen im In- und Ausland bedacht. Ihm wurden mehrere Ehrendoktorwürden verliehen. Seit 2013 ist er Ehrenbürger von Wilna, wo er seit 2019 wieder lebt.

Birutė Burauskaitė
Aus dem Polnischen von Gero Lietz
Letzte Aktualisierung: 05/23