Ukraine

Iryna Stassiw-Kalynez

Iryna Stassiw-Kalynez, 1940–2012

Iryna Stasiv-Kalynec′

Ірина Стасів-Калинець

Philologin und Dichterin. Aktiv in der ukrainischen Bewegung für die nationale und religiöse Wiedergeburt, Menschenrechtsaktivistin, politische Gefangene.

Iryna Stassiw-Kalynez wurde 1940 in Lwiw geboren. Ihre Eltern bekannten sich zu der in der UdSSR verfolgten Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche. Ihr Vater war Arbeiter, ihre Mutter entstammte einer Bauernfamilie. Verwandte von ihr hatten Verbindungen zur Organisation Ukrainischer Nationalisten. Als Kind war sie Augenzeugin von Massendeportationen nach Sibirien, als Jugendliche war die Idee einer unabhängigen Ukraine für sie prägend. In ihren Erinnerungen schrieb sie: „In der Schule wurde alles, was uns heilig war, in den Dreck gezogen, zu Hause wurde alles im Flüsterton erklärt.“

Nach ihrem Oberschulabschluss 1957 arbeitete sie anderthalb Jahre als Laborantin in einer Fabrik, anschließend in einem Zentrum für Bluttransfusionen. 1959 nahm sie ein Studium der Slawischen Philologie an der Universität Lemberg auf. 1961 heiratete sie den Dichter Ihor Kalynez. Anlässlich der Gedenkfeierlichkeiten zum 150. Todestag von Taras Schewtschenko lernte sie in Kiew Jewhen Swerstjuk, Alla Horska und Iwan Dratsch kennen. Nach ihrem Studienabschluss 1964 arbeitete sie in verschiedenen Schulen und Klubs. Hier bemühte sie sich entgegen offizieller Vorgaben, auch Kenntnisse über die Geschichte der nationalen Bewegung in der Ukraine zu vermitteln. Arbeitsplatzwechsel waren die Folge, ab 1966 hatte sie keine feste Stelle mehr. Sie arbeitete stunden- und vertretungsweise, fand Beschäftigung in Webereien und Schulhorteinrichtungen.

Im Juli 1970 war Stassiw-Kalynez eine von neun Mitunterzeichnerinnen eines Protestschreibens gegen die Verhaftung von Walentyn Moros. Mit einer Petition an die Staatsanwaltschaft der Ukrainischen SSR beantragte sie im Herbst des Jahres gemeinsam mit ihrem Mann, der Gerichtsverhandlung gegen Moros beizuwohnen. Im Namen von Verwandten und Freunden des Angeklagten schrieb sie einen Brief an den Vorsitzenden des Ministerrats der UdSSR Alexei Kossygin, und beim Obersten Sowjet der UdSSR protestierte sie gegen Unregelmäßigkeiten während der Ermittlungen gegen den Angeklagten. Im Dezember 1971 unterschrieb sie die Gründungserklärung des Gesellschaftlichen Komitees zur Verteidigung von Nina Strokata.

Während einer Wohnungsdurchsuchung bei Stassiw-Kalynez am 12. Januar 1972 wurden Briefe, Fotos, der Essay „Ein Phänomen der Zeit“ (Fenomen doby) von Wassyl Stus, ihr im Samisdat erschienenes Buch „Die Oranta“ (Oranta) und im Westen erschienene Ausgaben der Gedichte ihres Mannes Ihor Kalynez beschlagnahmt. Noch am selben Tag wurde sie verhaftet. Im Zuge der Ermittlungen trat sie wiederholt in den Hungerstreik und verband damit unter anderem die Forderung, ihr Stift und Papier zur Verfügung zu stellen. Sie verfasste auch ein Protestschreiben an das ZK der Kommunistischen Partei der Ukraine. Während der Haft entstand ihr Gedichtzyklus „Der Ruf“ (Poklyk). Sie wurde der Abfassung antisowjetischer Gedichte beschuldigt, wobei besonders der Wjatscheslaw Tschornowil gewidmete Band „Weg der Vertreibung“ (Doroha wyhnannija) und darin vor allem das Gedicht „Odysseus“ (Odissej), das Missfallen der Behörden erregt hatte. Weiterhin wurden ihr die Vervielfältigung und Weiterverbreitung von Samisdat-Erzeugnissen sowie Äußerungen über die Notwendigkeit einer Abspaltung der Ukraine von der UdSSR vorgeworfen. Es gelang der Anklage jedoch nicht, belastbare Beweise für eine „antisowjetische“ Betätigung von Stassiw-Kalynez vorzulegen. Während der Verhandlung widerriefen einige Zeugen zudem vorherige belastende Aussagen. Die Prozesstermine lagen zwischen dem 31. Juli und dem 2. August 1972. Das Gebietsgericht Lwiw verurteilte Stassiw-Kalynez auf der Grundlage von Artikel 62, Paragraf 1 Strafgesetzbuch der Ukrainischen SSR (entspricht Artikel 70, Paragraf 1 Strafgesetzbuch der RSFSR) zu sechs Jahren Lagerhaft und drei Jahren Verbannung. Gegen ihren Mann wurde ein halbes Jahr später eine gleichlautende Strafe verhängt.

Ihre Haft verbüßte Stassiw-Kalynez in den mordwinischen Lagern. Dort arbeitete sie als Näherin, Anstreicherin, Heizerin, Gärtnerin und Köchin. In dieser Zeit erschienen ihre Gedichte im Samisdat und wurden auch im Ausland publiziert. Im Verlag „Smoloskyp“ erschien 1973 ein Buch über die Familie Kalynez. Im Lager schloss sie sich den Protestaktionen der dort inhaftierten Frauen an, die von der Lagerleitung mehrfach mit besonderen Schikanen geahndet wurden. Die Verbannungszeit verbrachte sie gemeinsam mit ihrem Mann im Gebiet Tschita im südlichen Sibirien, wo sie als Melkerin und Anstreicherin Beschäftigung fand. 1981 kehrte sie nach Lwiw zurück und nahm eine Stelle als Kassiererin und Sekretärin im Haus des Lehrers an.

Ab 1987 engagierte sich Stassiw-Kalynez im aufblühenden kulturellen und gesellschaftlichen Leben der Stadt. Gemeinsam mit ihrem Mann war sie im November 1987 eines der Gründungsmitglieder der Ukrainischen Gesellschaft der Unabhängigen Schöpferischen Intelligenz (Ukraïns’ka Asociacija Nezaležnoï Tvorčoï intelihenciï). Sie hielt Vorträge, schrieb Beiträge für die Presse und engagierte sich in verschiedenen Initiativen und Organisationen. Sie war außerdem Gründungsmitglied der Taras-Schewtschenko-Gesellschaft für Ukrainische Sprache, der Vereinigung Memorial und der Volksbewegung der Ukraine. Ein wichtiges Anliegen war ihr die Wiederbelebung der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche.

1988 und 1989 fanden in Lwiw fast täglich Kundgebungen und Versammlungen statt. Dazu gehörten Gottesdienste zu Ehren herausragender Töchter und Söhne der Stadt, Solidaritätskundgebungen für die Ukrainische Griechisch-Katholische Kirche, Lyrikabende, Demonstrationen am Iwan-Franko-Denkmal und andere Zusammenkünfte zur Erinnerung an wichtige Ereignisse der Stadtgeschichte. Für derlei Veranstaltungen lag oft keine Genehmigung vor, sodass Stassiw-Kalynez als eine der Teilnehmerinnen mehrfach in Gewahrsam genommen wurde. Am 22. Januar 1989, nach einer Zusammenkunft zur Erinnerung an den Zusammenschluss der ukrainischen Westgebiete siebzig Jahre zuvor, wurde sie zu zehn Tagen Gefängnis verurteilt. Auch als Michail Gorbatschow im Februar 1989 Lwiw besuchte, wurde Stassiw-Kalynez vorübergehend festgenommen.

Bei den Wahlen zum Obersten Sowjets der Ukraine im März 1990 gewann sie ein Abgeordnetenmandat und leitete ab Mai 1990 das Bildungsreferat des Gebiets Lwiw. Nach der staatlichen Unabhängigkeit der Ukraine 1991 wurden im Zuge der von ihr veranlassten Schulreform mit dem Ziel der Ukrainisierung des Schulwesens unter anderem der Russischunterricht in den Grundschulen abgeschafft, die Anzahl russischer Schulen und Schulklassen reduziert und Rahmenlehrpläne entsprechend geändert. Die Reform führte zur Entstehung neuer Bildungseinrichtungen (Mittel- und Oberschulen) und zur Gründung des Internationalen Zentrums für Bildung, Wissenschaft und Kultur in Lwiw (Mižnarodnyj centr osvity, nauky i kul’tury). 1992–94 führte sie den Vorsitz einer Arbeitsgruppe des Bildungsausschusses des Oberstes Rates der Ukraine. Sie war Mitglied des Beirates für humanitäre Politik beim Gebietsexekutivkomitee Lwiw und leitete den „Runden Tisch“ führender Vertreter von Organisationen aus dem Sozial-, Kultur- und Bildungsbereich. Als Mitarbeiterin der Universität Lwiw forschte sie zur Frühgeschichte der Ostslawen. Sie war fortwährend literarisch und publizistisch tätig. Für ihr bürgerschaftliches Engagement wurde ihr unter anderem der nationale Prinzessin-Olga-Orden verliehen.

Iryna Stassiw-Kalynez starb nach langer Krankheit am 31. Juli 2012 in Lwiw.

Wolodymyr Kaplun
Aus dem Polnischen von Gero Lietz
Letzte Aktualisierung: 09/20