Ukraine

Jurij Lytwyn

Jurij Lytwyn, 1934–84

Jurij Lytvyn

Юрій Литвин

Arbeiter und Dissident. Dichter, Prosaschriftsteller, Publizist. Mitglied der Ukrainischen Helsinki-Gruppe. 20 Jahre Gefängnis- und Lagerhaft, dort verstorben.

Jurij Lytwyn wurde 1934 in dem Dorf Ksaweriwka im Gebiet Kiew in eine Dorflehrerfamilie geboren. Im Zweiten Weltkrieg kämpfte sein Vater unter anderem in der Partisaneneinheit von Sydir Kowpak und starb 1944 an den Folgen von Verletzungen. Seine Mutter lebte mit dem Sohn fortan in dem Dorf Barachty bei Kiew. Später besuchte Lytwyn die Schule für Bergbau und Industrie in Schachty bei Rostow, musste aber aufgrund einer Erkrankung die Ausbildung abbrechen und kehrte in sein Dorf zurück.

Im Juni 1953 wurde Lytwyn zusammen mit einigen Freunden verhaftet, nachdem sie ein Kalb der Kolchose im Wald festgehalten hatten. Dadurch wollten sie vom Vorsitzenden der Kolchose die Erlaubnis erzwingen, außerhalb des Dorfes eine Ausbildung aufzunehmen. Am 29. Juli 1953 verurteilte ihn das Kreisgericht in Wassylkiw nach Artikel 4 des Dekrets vom 4. Juli 1947 über die strafrechtliche Verantwortung bei Diebstahl von staatlichem und genossenschaftlichem Eigentum zu zwölf Jahren Freiheitsentzug. Lytwyn kam in das Arbeitsbesserungslager Kunejewka und wurde auf der Baustelle des nahe gelegenen Kuibyschew-Wasserkraftwerks eingesetzt.

Am 31. Januar 1955 kam Lytwyn dank der Fürsprache von Sydir Kowpak frei, wurde am 14. April jedoch erneut verhaftet. Ihm wurde die Gründung der antisowjetisch-nationalistischen „Bruderschaft der freien Ukraine“ vorgeworfen, deren Mitglieder angeblich beabsichtigt hätten, nach ihrer Freilassung Kontakt zu der im Untergrund tätigen Organisation Ukrainischer Nationalisten aufzunehmen und in den Kampf für eine unabhängige Ukraine einzutreten. Über die Abfassung eines Statuts, Eidesbekundungen und Agitation im eigenen Umfeld war die Tätigkeit der Gruppe jedoch nicht hinausgegangen. Als Initiator und einer ihrer Anführer wurde Lytwyn am 10. September 1955 vom Gebietsgericht in Kuibyschew (heute: Samara) nach Artikel 58, Paragraf 10 und Artikel 58, Paragraf 11 Strafgesetzbuch der RSFSR zu zehn Jahren Lagerhaft und drei Jahren Verbannung verurteilt. In diesem Verfahren wurden 16 ukrainische Häftlinge des Arbeitsbesserungslager Kunejewka schuldig gesprochen. Seine Strafe verbüßte Lytwyn im Lager Medyn im Gebiet Kaluga, im OserLag im Gebiet Irkutsk sowie in den mordwinischen Lagern.
Während seiner Lagerhaft verfasste Lytwyn den Lewko Lukjanenko gewidmeten Gedichtband „Tragische Galerie“ (Tragičeskaja galeria), in dem er verschiedene Lebensschicksale seiner Generation und die Opfer des Terrors in den Fokus rückte.

Unmittelbar nach seiner Freilassung am 14. Juni 1965 übermittelte Lytwyn der US-amerikanischen Botschaft in Moskau Informationen zur Situation politischer Gefangener in Lagerhaft. Er zog in das Dorf Barachty zurück, wo seine Mutter lebte, und fand Beschäftigung als Fabrikarbeiter. Zum Betriebsrat gewählt, forderte er, die Gewerkschaften nicht als „Transmissionsriemen der Partei“, sondern als Werkzeug zur Verteidigung der wirtschaftlichen Interessen der Arbeiter zu betrachten. Als der KGB Lytwyn mit Verhaftung drohte, sah er sich gezwungen, sich vorübergehend in Sibirien niederzulassen.

Nach seiner Rückkehr in die Ukraine wurde Lytwyn am 14. November 1974 in Riwne verhaftet und wegen der Veröffentlichung antisowjetischer politischer und literarischer Schriften angeklagt: In seinen Texten „Thesen über den Staat“ (Tezy pro deržavu), „Anarcho-syndikalistisches Manifest“(Anarcho-syndykalists’skyj manifest) und „Aufzeichnungen eines Arbeiters“ (Zapysky robotnika) hatte er den Staat als etwas entschieden Böses bezeichnet und die „internationalistische“ Politik der KPdSU vor allem im Zusammenhang mit dem Einmarsch von Truppen des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei kritisiert. Am 13. März 1975 verurteilte ihn das Gebietsgericht in Kiew nach Artikel 187, Paragraf 1 Strafgesetzbuch der Ukrainischen SSR (entspricht Artikel 190, Paragraf 1 Strafgesetzbuch der RSFSR) zu drei Jahren Lagerhaft. Seine Strafe verbüßte Lytwyn in der Ortschaft Werchnij Tschow in der ASSR der Komi. Nach seiner Entlassung am 14. November 1977 zog er erneut nach Barachty und stand hier eineinhalb Jahre unter behördlicher Aufsicht.

Auf Zureden von Oksana Meschko trat Lytwyn im Juni 1978 der Ukrainischen Helsinki-Gruppe (UHG) bei, worüber Mitte Juli 1979 Radio Liberty und der Sender „Voice of America“ informierten. Im Rahmen von Hausdurchsuchungen bei anderen Oppositionellen wurden verschiedene seiner Schriften beschlagnahmt, unter anderem sein Text „Die Menschenrechtsbewegung in der Ukraine, ihre Prinzipien und Perspektiven“ (Pravozachysnyj ruch na Ukrajini, joho zasady ta perspektyvy). Im Juli 1979 gab das in New York herausgegebene „Informacijnyj Bjuleten“ Texte von Lytwyn heraus, im November 1979 unterzeichnete er mehrere Dokumente der UHG.

Am 19. Juli 1979 wurde Lytwyn kurzzeitig festgenommen, verprügelt und am 6. August erneut verhaftet. Am 17. Dezember 1979 verurteilte ihn das Kreisgericht in Wassylkiw nach Artikel 188, Paragraf 1, Absatz 2 Strafgesetzbuch der Ukrainischen SSR (Widerstand gegen Polizeibeamte) zu drei Jahren Lagerhaft. Er war in Bila Zerkwa, in Butscha bei Kiew und in Cherson inhaftiert. Eineinhalb Monate vor Ablauf der Strafe stufte ihn das Gebietsgericht in Kiew als „besonders gefährlichen Rückfalltäter“ ein und verurteilte ihn am 24. Juni 1982 nach Artikel 62, Paragraf 2 Strafgesetzbuch der Ukrainischen SSR (entspricht Artikel 70, Paragraf 2 Strafgesetzbuch der RSFSR) zu zehn Jahren Lager mit besonderem Vollzug und fünf Jahren Verbannung. Unter anderem wurde ihm die Autorenschaft mehrerer publizistischer Texte vorgeworfen, darunter „An die Kämpfer für die Freiheit und Unabhängigkeit der Tschechoslowakei“ (Borcam za svobodu i nezavisimost‘ Čechoslovakii) und „Der sowjetische Staat und die sowjetische Arbeiterklasse aus der Sicht eines Arbeiterdissidenten“ (Soveckoe gosudarstvo i sovieckij rabočij klass – glazami rabočego dissidenta). Schwer erkrankt wurde Lytwyn im Herbst 1982 in das Lager in Kutschino (Permer Lager) überstellt, wo sich sein physischer und psychischer Zustand weiter verschlechterte: Er konnte nicht laufen und hatte sein Augenlicht fast verloren, sodass er sogar von der Arbeitspflicht befreit wurde.

Am 23. August 1984 fand man Jurij Lytwyn mit aufgeschnittenem Bauch in einer Baracke des Lagers. Er verstarb nach zwei Wochen, am 5. September 1984, im Gefängniskrankenhaus in Tschussowoi. Die Teilnahme an der Beerdigung auf dem Lagerfriedhof in Kutschino wurde auch seiner Mutter gestattet. Ungeklärt ist, ob sich Lytwyn selbst umbringen wollte. Ein Gegenstand, mit dem er sich hätte verletzen können, war nicht gefunden worden. Mit nicht einmal 50 Jahren hat Lytwyn über 20 Jahre in Gefängnissen und Lagern verbracht. Er hat mehrere Gedichtbände und Prosawerke verfasst, der Großteil seines literarischen Werks ist jedoch verschollen.

Am 19. November 1989 wurden Lytwyns sterbliche Überreste zusammen mit denen von Wassyl Stus und Oleksa Tychyj im Rahmen einer feierlichen Zeremonie auf dem Kiewer Bajkowe-Friedhof beigesetzt. 1991 wurden seiner Mutter 42 Dokumente aus seiner Akte übergeben: Manuskripte, Artikel, Erklärungen und Briefe (ein Teil davon wurde 1999 veröffentlicht). Auf Initiative der Vereinigung Memorial in Drohobytsch wurde 1992 in Barachty für Lytwyns Mutter ein neues Haus errichtet, in dem sie bis zu ihrem Tod 1997 lebte. Seit 1994 gibt es in der Schule des Ortes einen Lytwyn-Gedenkraum.

Sofija Karasyk
Aus dem Polnischen von Tim Bohse
Letzte Aktualisierung: 09/20