Philosoph, einer der wichtigsten Vordenker der demokratischen Opposition in Ungarn, gemeinsames Pseudonym mit János Kis: Marc Rakovski.

Geboren in Budapest, studierte György Bence in den Jahren 1961–66 Philosophie an der Loránd-Eötvös-Universität in Budapest. Ab 1962 war er gemeinsam mit János Kis Schüler des bekannten ungarischen Soziologen György Márkus.

1966 erhielt er eine Anstellung als Assistent im Institut für Philosophie der Ungarischen Akademie der Wissenschaften. Als er 1967 in die Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei (MSZMP) eintreten wollte, wurde er als Mitglied abgelehnt. Nachdem ein Jahr später die Akademie der Wissenschaften sein Stipendium nicht verlängert hatte, nahm er eine Arbeit als Redakteur im Akademie-Verlag (Akadémiai Kiadó) auf. 1968 publizierte er den Aufsatz „Marcuse und die neulinke Studentenbewegung“ (Marcuse és az újbaloldali diákmozgalom), in dem er sich mit der neuen gesellschaftlichen Situation nach dem Ausbruch der Studentenproteste beschäftigte.

Nach 1968 nahm er an Seminaren teil, die in den Wohnungen von Péter Donáth und später von Ferenc Kőszeg stattfanden. 1969–72 war er Aspirant bei den Philosophen Georg Lukács und György Márkus. Gemeinsam mit Márkus und János Kis verfasste er in den Jahren 1970–72 die Arbeit „Wie ist eine kritische Wirtschaftslehre möglich?“ (Hogyan lehetséges kritikai gazdaságtan?) – eine kritische Analyse der strukturellen Fehler im Marx’schen „Kapital“. Darin heißt es unter anderem: „Die von Marx konzipierte Logik des ökonomischen Systems […] führte dazu, dass sich die Ergebnisse seiner Prämissen gegen die Freiheit der Arbeiter und Verbraucher kehrten.“ Die Autoren lehnten die Methodologie von Lukács ab und kamen zu dem Schluss, dass Reformen ausschließlich über oppositionelle Tätigkeit bewerkstelligt werden könnten und dass die Oppositionellen Kontakte mit Vertretern nichtmarxistischer philosophischer Richtungen knüpfen müssten.

Im Jahre 1973 startete das Zentralkomitee der MSZMP Ermittlungen gegen die drei Autoren des Buches (also gegen György Bence, János Kis und György Márkus) sowie gegen vier weitere Philosophen. Alle wurden mit einem Publikations- und Reiseverbot belegt, sie durften Ungarn nicht verlassen. Bence fand nirgends feste Arbeit, lebte von gelegentlichen Aufträgen und Lektoratsarbeiten, publizieren konnte er nur im Ausland oder in Untergrundverlagen. In den Jahren 1973–75 verfasste er gemeinsam mit János Kis unter dem Pseudonym „Marc Rakovski“ das Buch „Die Gesellschaft sowjetischen Typs mit marxistischen Augen betrachtet“ (A szovjet típusú társadalom marxista szemmel), in dem die Autoren den Prozess der Einbeziehung der an den Rand der Gesellschaft gedrängten ungarischen Intelligenz in die oppositionelle Arbeit und allgemein die Rolle der Intelligenz in der Dissidentenbewegung beschrieben. Beim Verfassen des Buches hielt Bence sich immer noch für einen Marxisten, aber an die von der marxistischen Propaganda verbreiteten Visionen glaubte er schon lange nicht mehr.

Ende 1976 übersetzte Bence gemeinsam mit János Kis eines der Werke von Iván Szelényi, einem 1975 in die Emigration gedrängten ungarischen Soziologen. Dieses mit einer kommentierenden Einleitung von Bence/Kis versehene Buch war die erste bewusst als Untergrundliteratur herausgegebene Publikation in Ungarn. Im Januar war Bence gemeinsam mit János Kis, János Kenedi und Mária Pap Autor eines Protestschreibens gegen die Inhaftierung der Sprecher der Charta 77 in der Tschechoslowakei und sammelte Unterschriften. 1979 verurteilte er gemeinsam mit János Kis und János Kenedi, die Repressionen, denen sich die Charta-77-Unterzeichner ausgesetzt sahen. Anfang 1979 reiste er nach Polen, wo er sich mit führenden KOR-Vertretern traf und sich zudem mit der Arbeitsweise illegaler Verlage vertraut machte. Während seines Aufenthalts in Polen wurde er rund um die Uhr von der Polizei observiert.

1979–80 war Bence an der Herausgabe der Bibó-Festschrift (Bibó Emlékkönyv) beteiligt. Darin erschien auch der gemeinsam mit János Kis verfasste Aufsatz „Beschränkte Revolution, eingeschränktes Mehrparteiensystem, bedingte Souveränität“ (Határolt foradalom, megszoritott többpártrendszer, feltételes szuverenitás).

1981 war Bence entschieden dagegen, die Untergrundzeitschrift „Beszélő“ (Sprecher) ins Leben zu rufen, da er meinte, die ungarische Opposition sei als eine vom Rest der Gesellschaft isolierte Gruppe ohne realen Einfluss auf die Ereignisse zu klein. Durch diese Haltung litten die zuvor engen Kontakte zu János Kis. 1982 durfte György Bence zum ersten Mal in den Westen reisen, er nutzte dies zu einem einjährigen Aufenthalt an der New School for Social Research in New York, wo er im Rahmen eines Stipendiums an einem Forschungsvorhaben zu Osteuropa teilnahm. 1983 schloss er sich dem Duray-Komitee an, das als Reaktion auf die Repressalien durch tschechoslowakische Gerichte gegen Miklós Duray entstanden war. 1985 nahm er am Treffen in Monor teil. Anlässlich des im Oktober 1985 in Budapest stattfindenden Europäischen Kulturforums publizierte er den Aufsatz „Zensierte und alternative Publikationsmöglichkeiten in der ungarischen Kultur“ (Cenzurázott és alternativ közlési lehetőségek a magyar kultúrában), lehnte es jedoch ab, seine Unterschrift unter einen Aufruf der Opposition an die Teilnehmer des Forums zu setzen. Von 1986 bis 1989 arbeitete Bence für die in Paris erscheinende Zeitschrift „Magyar Füzetek“ (Ungarische Hefte), für die er auch bereits in den Jahren zuvor etliche Beiträge verfasst hatte. 1986 und dann wieder 1988/89 war er Dozent an der New School for Social Research in New York.

Im Februar 1988 gründete er gemeinsam mit István Eörsi, Ferenc Kőszeg, Sándor Radnóti und Vilmos Sós das sogenannte Passport-Komitee, das sich für Reisefreiheit einsetzte. Als ihnen der Reisepass verweigert wurde, begannen im Juli 1988 einige Personen – unter ihnen Kőszeg, Tamás Molnár und Jenő Fonay – einen Hungerstreik; andere schlossen sich ihnen an. Durch den Hungerstreik erwirkten sie tatsächlich, dass ihnen Reisepässe ausgehändigt wurden. Im Jahre 1989 folgte dann ein Gesetz, das die bis dahin geltenden Beschränkungen aufhob.

Nach dem Ende der kommunistischen Diktatur betätigte sich Bence einige Jahre lang als Berater von Fidesz (Fiatal Demokraták Szövetsége/Bund Junger Demokraten). 1989 war er zudem Mitglied des Redaktionskollegiums der „Budapesti Könyvszemle“ (Budapester Buchschau, BUKSZ), deren Chefredakteur er dann wurde. Im selben Jahr begann er seine Arbeit an der Budapester Loránd-Eötvös-Universität, wo er ab 1990 den Lehrstuhl für Sozialphilosophie und Ethik leitete und 1991 zum Professor ernannt wurde. 1992/93 forschte er am Woodrow Wilson Center in Washington, 1995 lehrte er an der University of Wisconsin. Ab 1991 war er Vorsitzender der Philosophischen Kommission der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, ab 1992 Vorsitzender des sogenannten Unsichtbaren Kollegs (Láthatatlan Kollégium), einer von George Soros finanzierten Seminarreihe für hochbegabte Studenten.

2005 schuf György Bence die Online-Presseschau „Metazin“ (http://www.metazin.hu). György Bence starb 2006 in Budapest. Posthum wurde er mit dem Albert-von-Szent-Györgyi-Preis geehrt.

Péter Hermann
Aus dem Polnischen von Gero Lietz
Letzte Aktualisierung: 06/15