Geschichte der armenischen Opposition
Als Grundfesten des Nationalbewusstseins der Armenier gelten die im ersten Jahrtausend v. Chr. beginnende Tradition eigener Staatlichkeit, die seit dem vierten Jahrhundert n. Chr. währende Verbundenheit mit der christlichen Religion sowie die dadurch hervorgebrachte Kultur (unter anderem mit einem mehr als 1600 Jahren alten, eigenen Alphabet). Viele Jahrhunderte war den Armeniern eine eigene Staatlichkeit versagt: Ab Ende des 13. Jahrhundert gingen die unabhängigen westarmenischen Königreiche in Kleinasien und im Nahen Osten unter, im 17. Jahrhundert dann waren die von Armeniern besiedelten Territorien Bestandteil zweier Reiche – des Osmanischen Reiches und des Perserreiches. Als Folge der Russisch-Persischen Kriege in den ersten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts gelangte Ostarmenien (mit Bergkarabach und Nachitschewan) unter die Oberhoheit des Russischen Reichs, Westarmenien hingegen blieb unter türkischer Herrschaft.
Im Russischen Reich waren Armenier als „Fremde“ zwar Diskriminierungen ausgesetzt, bildeten jedoch zugleich eine wichtige Gruppe innerhalb der Führungsschicht – das galt sowohl für Militär, Beamtentum und Intelligenz als auch für Handel und Industrie. Viele Armenier engagierten sich im Russischen Reich in sozialen Bewegungen und gehörten revolutionären und liberalen Parteien an. Ende des 19. Jahrhunderts entstand als erste sozialistisch orientierte, armenische Partei die Armenische Revolutionäre Föderation, deren Mitglieder (nach dem armenischen Parteinamen Daschnakzutjun) auch als „Daschnaken“ bezeichnet wurden. Dem Völkermord von 1915 fielen hundertausende der im Osmanischen Reich ansässigen Armenier zum Opfer. Die mit diesem Verbrechen verbundenen Ereignisse prägten das Bewusstsein der Überlebenden – Flüchtlinge aus Westarmenien, Einwohner Ostarmeniens und Angehörige der großen armenischen Diaspora – nachhaltig.
1917 wurde der östliche Teil Armeniens – bis dahin Teil des Machtbereichs des Russischen Reiches – souverän. Für kurze Zeit ging das Land im Rahmen der Transkaukasischen Föderativen Republik eine Verbindung mit Georgien und Aserbaidschan ein. Am 28. Mai 1918 wurde die unabhängige Demokratische Republik Armenien ausgerufen, doch auch sie überdauerte nur zweieinhalb Jahre, geprägt von einem fortwährenden Existenzkampf der von den Daschnaken regierten jungen Republik. Dabei musste sich das Land einerseits gegen türkische Truppen zur Wehr setzen, andererseits gab es auch bewaffnete territoriale Auseinandersetzungen mit Aserbaidschan. Das wirtschaftliche Chaos der Nachkriegszeit, die Inflation, der Zusammenbruch der Landwirtschaft sowie erneute Angriffe der Türkei auf Armenien ab September 1920 führten zur Schwächung der Regierung. Im November 1920 gewannen die Bolschewiki die Oberhand und riefen im Dezember 1920 die Armenische Sozialistische Sowjetrepublik aus. Mitte März 1922 schloss sich Armenien mit Georgien und Aserbaidschan zur Föderativen Union der Transkaukasischen Sozialistischen Sowjetrepubliken zusammen, die als Transkaukasische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik noch im selben Jahr Teil der neugegründeten UdSSR wurde (1936 wurde der Verbund aufgelöst und seine Mitglieder, darunter Armenien, formal wieder zu eigenständigen Unionsrepubliken der UdSSR).
Nachdem sich die Sowjetmacht in allen drei Kaukasusrepubliken etabliert hatte, wurden Grenzkorrekturen vorgenommen. Die von Armenien und Aserbaidschan gleichermaßen beanspruchten und von armenischer und aserbaidschanischer Bevölkerung bewohnten Gebiete Bergkarabach und Nachitschewan wurden Aserbaidschan zugesprochen. Über die Hälfte des armenischen Volkes fand sich damit außerhalb der Grenzen der Armenischen SSR wieder. Die Sowjetunion erkannte, wie andere Staaten auch, das Recht der Türkei auf Westarmenien an, wo vor dem Völkermord von 1915 mehr als drei Millionen Armenier gelebt und die größte Volksgruppe gebildet hatten. In den Jahren des stalinistischen Terrors erlitt auch das armenische Volk die für diese Zeit typischen Unterdrückungsmaßnahmen. Besonders unerbittlich traf es diejenigen, denen Beziehungen zur früheren Regierungspartei, den Daschnaken, nachgesagt wurden. Dem Großen Terror 1937–38 fiel nahezu die gesamte patriotisch gesinnte Intelligenz Armeniens zum Opfer. Dennoch gelang es, die Grundpfeiler der nationalen Kultur – die Sprache, das Alphabet und die Kirche – zu bewahren.
Nach Ende des Zweiten Weltkriegs war die Sowjetunion bemüht, ihren Einfluss auf die armenische Diaspora zu erhöhen. Armeniern im Ausland bot man eine „Repatriierung“ in der Armenischen SSR an. Tatsächlich kamen Zehntausende, vor allem aus dem Nahen Osten. Die gemachten Versprechen hielten der sowjetischen Wirklichkeit jedoch nicht stand. Tausende Rückkehrer fielen Deportationen zum Opfer. Allein in der Nacht vom 13. auf den 14. Juni 1949 wurden mehr als zehntausend Menschen in den Altai und in die westsibirische Stadt Tomsk verbracht. Viele enttäuschte Repatrianten veranlassten diese Erfahrungen später, sich oppositionell zu engagierten. Die armenische Diaspora insgesamt war der politischen Führung der UdSSR gegenüber jedoch nicht feindlich gesinnt, die wiederum räumte ihr verschiedene Privilegien ein. Angesichts der sowjetischen Abschottung nach außen war beispielsweise die erleichterte Kontaktpflege zwischen Armenien und dem Ausland etwas Einzigartiges: In der UdSSR lebende Armenier durften briefliche und anderweitige Kontakte mit ihren Verwandten im Ausland aufrechterhalten, und Armeniern in der Diaspora wurde gestattet, die UdSSR zu besuchen. Dies blieb nicht ohne Einfluss auf die allgemeine Atmosphäre in der Armenischen SSR.