Die Perestroika-Zeit
Die sich verändernde internationale Lage und die daraus resultierenden neuen Erwartungen ab Mitte der 80er Jahre beeinflussten auch das Selbstbild der Charta 77. Während die Veränderungen in der Sowjetunion unumkehrbar zu sein schienen, erweckte das erstarrte tschechoslowakische Regime den Anschein, solche Veränderungen nicht überstehen zu können. Die selbst gesetzte Begrenzung der Charta 77 auf Menschen- und Bürgerrechte stellte in dieser Situation keine ausreichende Perspektive mehr dar. Aufgrund dessen stand die Bürgerrechtsbewegung nun vor der unausweichlichen Notwendigkeit, sich grundlegenderen politischen Fragen zu stellen. Ein erster Versuch in diese Richtung bestand in dem Aufruf „Demokratie für alle“ (Demokracie pro všechny) vom 15. Oktober 1988 der Bewegung für Bürgerfreiheit (Hnutí za občanskou svobodu; HOS). Der Appell wurde von 126 Personen unterschrieben - darunter fast allen ehemaligen Unterzeichnern der Charta 77 – und bildete die Grundlage für die politischen Diskussionen auch außerhalb von Prag und Brünn (Brno).
Dieser Schritt beschleunigte ähnliche Vorgänge in anderen Oppositionskreisen, die bisher keine öffentlichen Aktivitäten gezeigt hatten. An den Universitäten entstand die Idee eines „Klubs der Unabhängigen Intelligenz“, auch zahlreiche Künstler traten immer häufiger mit offenen Regimekritikern in den Dialog. Es entstanden spontane lokale Jugendinitiativen und auch die katholischen Oppositionsgruppen erhielten wieder mehr Zulauf. Die Oppositionsbewegung begann, sich konkreten Problemen zuzuwenden, sie interessierte sich unter anderem für ökologische Fragen und Umweltzerstörung, wobei es auch hier generationelle Unterschiede gab, vor allem was die Wahrnehmung solcher Probleme betraf.
Aufgrund ihrer guten Vernetzung und breiten personellen Basis wurde die Charta 77 gegen Ende des Jahres 1988 die einflussreichste Bewegung, welche die gesamtgesellschaftliche Meinung prägte. Im Dezember 1988 gelang es ihr mit Erlaubnis der Behörden, anlässlich des Jahrestages der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte eine Kundgebung zu veranstalten. Knapp sechs Wochen später, während der Jan-Palach-Woche zum 20. Jahrestag seiner Selbstverbrennung, war die Charta 77 dagegen weit weniger präsent. Die Demonstrationen verliefen in hohem Maße spontan, zogen sich über viele Tage hin, ohne schwächer zu werden und markierten bereits eine besondere psychologische Umbruchsituation. Das Ende des Regimes zeichnete sich immer deutlicher ab.