Charta 77 und unabhängige Gruppen
Das Solidaritätsgefühl mit den Inhaftierten war Auslöser für die Entstehung der Bürgerrechtsbewegung Charta 77. Diese Plattform für oppositionelle Aktivitäten bot die Chance, die gesellschaftliche Starre zu durchbrechen. Es entstand eine Bewegung, die über keine Organisationsstruktur verfügte, da jede Institutionalisierung harte Reaktionen des Staates hervorrief. Als Grundlage für die gemeinsamen Aktivitäten wurde die Verteidigung der Menschen- und Bürgerrechte gewählt, die nach der Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte 1976 theoretisch auch durch die tschechoslowakische Gesetzgebung garantiert waren. Zu jener Zeit hätte eine Bewegung, die für die komplette Abschaffung des kommunistischen Systems gekämpft hätte, nur schwerlich eine breite gesellschaftliche Unterstützung gefunden. Unmöglich war ebenfalls eine Bewegung mit klar definierter ideologischer Richtung, da die Opposition in viele kleine und kleinste Grüppchen mit jeweils anderen Ideen und Orientierungen zersplittert war. So waren nicht alle Kommunisten, die nach dem Prager Frühling aus der Partei ausgeschlossen worden waren, nun zur Zusammenarbeit mit Kirchenaktivisten, Schriftstellern und Undergroundkünstlern bereit. Auch war es nicht einfach, die in der Kirche verankerten Oppositionsgruppen von der Zusammenarbeit mit Personen zu überzeugen, die noch vor kurzem dem Machtapparat angehört hatten. Die Konzeption der Charta 77 arbeiteten Václav Havel, Pavel Kohout, Zdeněk Mlynář, Jiří Němec, Jaroslav Kořán, Václav Vendelín Komeda und Petr Uhl aus. Die Erklärung der Charta 77 wurde noch vor ihrer Veröffentlichung am 6. Januar 1977 von 241 Personen unterschrieben. Innerhalb eines Jahres stieg die Zahl der Unterzeichner auf ungefähr 600 an, von denen viele in der Folgezeit polizeilichen Hausdurchsuchungen ausgesetzt waren. Ein Großteil der Unterzeichner verlor die Arbeit und in den Massenmedien begann eine Verleumdungskampagne die unterstellte, die Charta 77 ginge auf eine Initiative westlicher Geheimdienste zurück. Die Kampagne ließ keine persönliche Diffamierung der Führungsfiguren der Charta 77 aus. Bereits wenige Tage nach der Erklärung wurde ein Teil der Erstunterzeichner verhaftet, darunter Václav Havel, einer der drei Charta-Sprecher.
Die Charta 77 konnte zwar nicht zu einer Massenbewegung werden – das erlaubten weder ihre Struktur noch die damalige gesellschaftspolitische Situation. Allerdings veränderte ihr Erscheinen radikal die gesellschaftliche und politische Situation in der Tschechoslowakei. Die Machthaber verlangten von jedem einzelnen tschechischen Bürger den Loyalitätsbeweis, sich offen von der Erklärung der Charta 77 zu distanzieren, obwohl der Text der Erklärung nur den wenigsten bekannt war. Viele Menschen verloren ihre Arbeit, weil sie sich weigerten, eine Verurteilung der Charta 77 (die sogenannte „Anti-Charta“) zu unterschreiben, oder weil sie forderten, den Inhalt der Erklärung lesen zu können, bevor sie sich davon distanzierten. Indem die Partei den Text der Charta als staatsfeindlichen Akt behandelte, geriet sie in Konfrontation mit der Gesellschaft und verschärfte die Repressionen. Die Bürgerrechtsbewegung Charta 77 mobilisierte Menschen, die sich kaum aus eigenem Antrieb gegen das Regime engagiert hätten. Sie bot gleichzeitig einen gewissen Schutz unter anderem dadurch, dass Informationen über die Repressionen in westlichen Medien wie dem Rundfunk verbreitet wurden, die bis auf Radio Freies Europa, dessen Programme gestört wurden, in der Tschechoslowakei zu empfangen waren. Im Umfeld der Bürgerrechtsbewegung bildeten sich schon bald Gruppen, die sich hinsichtlich ihrer Ausrichtung und Kultur stark voneinander unterschieden, aber mit der Charta solidarisch verbunden blieben. Das Milieu der Chartisten verhinderte, dass Generationen- oder gesellschaftliche Gegensätze eine größere Rolle spielten, wodurch die ersten Monate des Jahres 1977 so etwas wie ein Vorbote der Samtenen Revolution von 1989 wurden.
Die Idee, die Charta 77 durch Einzelpersonen als Sprecher repräsentieren zu lassen, die selbst die Verantwortung für ihr Handeln trugen, begünstigte ihre Glaubwürdigkeit und machte ihre Absichten verständlicher. Zu den verantwortlichen Sprechern der Bürgerrechtsbewegung gehörten neben Václav Havel auch Jiří Hájek und Jan Patočka. Ihre Nachfolger oder Vertreter im Falle von Inhaftierungen wurden von denjenigen gewählt, die die Erklärung unterschrieben hatten. Wichtig waren nicht zuletzt die persönlichen Eigenschaften der einzelnen Kandidaten, da sich die Sprecher und ihre Familien auf Verfolgung und Repression durch den Sicherheitsdienst einstellen mussten. Ohne die mit ihr verbundenen Initiativen und Gruppen wäre die Geschichte der Charta 77 nicht vollständig. Im April 1978 entstand das Komitee zur Verteidigung der zu Unrecht Verfolgten (Výbor na obranu nespravedlivě stíhaných; VONS), das sich mit Fällen von Justiz- und Polizeirepression sowie mit der Verteidigung der Angeklagten vor Gericht befasste. Dessen Mitglieder waren in der Regel den stärksten Repressionen ausgesetzt, die Dissidenten treffen konnten. Die gewissenhafte Dokumentation und Veröffentlichung von staatlichen Verfolgungen waren oftmals Anstoß zu zahlreichen Unterstützungsaktionen für die Inhaftierten. Gleichzeitig trug dies zu einem steigenden Bewusstsein in der Gesellschaft über die wahren Ereignisse im Land bei. An der Wende der 70er zu den 80er Jahren erlebte die Bürgerrechtsbewegung Charta 77 ihre größte Krise, als viele der Unterzeichner freiwillig oder unter Zwang das Land verließen. Der härteste Schlag war die Verurteilung von Petr Uhl, Václav Havel, Václav Benda, Jiří Dienstbier und Otka Bednářová zu mehreren Jahren Haft aufgrund ihrer Tätigkeit im Komitee zur Verteidigung der zu Unrecht Verfolgten. Ein weiterer Grund für diese Krise war die Erschöpfung vieler Aktivisten und ein allgemeines Gefühl der Perspektivlosigkeit, beides charakteristisch für den Anfang der 80er Jahre. Das nächste für die Charta 77 politisch wichtige Ereignis folgte erst 1985, als sie am 11. März den Prager Aufruf (Pražská výzva) veröffentlichte. Mit diesem Text schuf sich die Charta die theoretische Grundlage einer politischen Bewegung, der es gelang, zahlreiche Intellektuelle an sich zu binden. Die große Bedeutung des Aufrufes lag in der Forderung begründet, alle fremden Streitkräfte aus allen europäischen Ländern abzuziehen, die deutsche Wiedervereinigung zu ermöglichen und in Europa eine Gemeinschaft unabhängiger Staaten zu schaffen.
In der ersten Hälfte der 80er Jahre zeichnete sich bei der Bürgerrechtsbewegung Charta 77 ein Generationskonflikt ab. Zu den Unterzeichnern gehörten auch Personen jüngerer Generationen, zu deren Lebensstil es gehörte, ihre Ansichten ungezwungen zu äußern. Auch hatten sie nicht die Erfahrung der 60er Jahre gemacht, dass sie ihre Arbeit aus politischen Gründen leicht verlieren konnten. Weiterhin arbeiteten sie eher in untergeordneten Posten. In der Bürgerbewegung der Charta 77 als einem der wenigen Orte, an denen der Widerspruch gegen das kommunistische System ausgedrückt werden konnte, fühlten sie sich fremd und marginalisiert, obwohl sie deren Ideen teilten und ihre Freiheit für sie riskierten. Die jungen Aktivisten hatten durch ein weites Verlagsnetz für ihre Zeitschriften und Bücher aus dem „zweiten Umlauf“ (Samisdat) und durch zahlreiche alternative Veranstaltungen einen gewissen Einfluss auf einen Teil ihrer Altersgenossen. Deutlichster Ausdruck des Generationenkonfliktes war ein offener Brief von 40 jungen Bürgerrechtlern im August 1987, in dem sie unter anderem zu einer stärkeren Dezentralisierung der Charta-Aktivitäten aufriefen und forderten, dass sich auch Menschen in kleineren Städten und ländlichen Gebieten leichter an den Aktivitäten der Charta 77 beteiligen können sollten. Als Ergebnis entstand die Unabhängige Friedensbewegung – Initiative zur Demilitarisierung der Gesellschaft (Nezávislé Mírové Sdružení – Iniciativa za demilitarizaci společnosti; NMS-IDS), deren Gründung am 16. April 1988 bekannt gegeben wurde. Tatsächlich waren an den mehrmonatigen Vorbereitungen zahlreiche Personen beteiligt, die zuvor nur teilweise mit der Charta 77 verbunden gewesen waren. Die neue Gruppe regte viele junge Initiativen dazu an, sich aktiv für den Frieden ein- und mit der Frage nach einem Wehrersatzdienst auseinanderzusetzen.