Die letzten Monate, Wochen, Tage und Stunden
Ende Juni 1989 verfasste der aktive Kern der Charta 77 um Václav Havel den Aufruf „Einige Sätze“ (Několik vět). Der kurze Text erlangte sofort großes Aufsehen und wurde von etwa 30.000 Menschen unterschrieben. Darunter waren auch viele bekannte Künstler, die bisher nicht mit der Dissidentenbewegung verbunden gewesen waren. Der Aufruf zeigte zwar keine unmittelbar feststellbaren Veränderungen, bereitete aber dank der breiten gesellschaftlichen Zustimmung den Boden für die späteren epochalen Umbrüche.
Nachdem im Sommer 1989 in Polen die erste nichtkommunistische Regierung an die Macht gekommen war, in Ungarn ein historischer Kompromiss zwischen Kommunisten und Opposition geschlossen wurde und zehntausende DDR-Bürger unter anderem über die bundesdeutsche Botschaft in Prag in den Westen fliehen konnten, erfasste der politische Umbruch als nächstes die Tschechoslowakei. Dort nahmen die öffentlichen Proteste an Stärke zu, die Zahl der Unzufriedenen stieg unaufhörlich weiter an.
Die letzten Inhaftierungen von Dissidenten fanden Ende Oktober 1989 statt. Es wurden Dutzende Personen für 48 bis 96 Stunden festgehalten, viele kamen in Untersuchungshaft: in der Slowakei Miroslav Kusý und Ján Čarnogursky, im tschechischen Landesteil Jiří Ruml und Rudolf Zeman. Letztere wurden angeklagt, den illegalen Druck für die Monatszeitschrift „Lidové noviný“ (Volkszeitung) organisiert zu haben. Zu diesem Zeitpunkt wurden auch viele Personen aus politischen Gründen inhaftiert, deren „Vergehen“ bereits mehrere Jahre zurücklagen. Trotz Solidaritätskampagnen im In- und Ausland ließen sich die kommunistischen Behörden nicht auf ihre Freilassung ein.
Nach dem Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 wartete das ganze Land gespannt auf den Umbruch in der Tschechoslowakei. Viele rechneten damit, dass die für Januar 1990 geplante Großdemonstration am Jahrestag von Jan Palachs Selbstverbrennung der Auslöser dafür werden könnte. Die Proteste begannen aber schon am 17. November 1989 mit Studentendemonstrationen, die an die Schließung der tschechoslowakischen Hochschulen durch die deutschen Besatzer vor 50 Jahren erinnern sollten. Zur Demonstration im Prager Stadtteil Albertov hatten das Stadtkomitee des sozialistischen Jugendverbandes und einige nichtoffizielle Studentengruppen aufgerufen. Die Staatssicherheit sah offenbar nicht voraus, dass dies der Tag der Revolution in der Tschechoslowakei werden sollte, denn über den Gang der Ereignisse entschied eine von ihr selbst provozierte Konfrontation. Als tausende Demonstranten aus Albertov die Straße Národní třída passierten, um ins Stadtzentrum zu laufen, schloss die Polizei die Demonstranten ein, sodass sie nicht mehr von der Straße kamen. Die Polizeieinheiten wurden von Offizieren der Staatssicherheitsabteilung geführt, die dafür bekannt waren, besonders hart durchzugreifen. Es folgten blutige Auseinandersetzungen, bei denen die Polizei auf hunderte Menschen einprügelte. Dutzende wurden verletzt.
Einen Tag später, am 18. November, behauptete die Demonstrantin Drahomíra Dražská, dass ihr Freund Martin Šmíd bei dieser Demonstration zu Tode geprügelt worden sei. Niemand zweifelte am Wahrheitsgehalt dieser Aussage. Die junge Frau traf sich mit Journalisten der Osteuropäischen Informationsagentur (Východoevropská informační agentura; VIA) und beschrieb wiederholt detailreich das Geschehen. Niemand versuchte, ihre Schilderung zu überprüfen, was am Samstagnachmittag auch fast unmöglich gewesen wäre. Schließlich wurden diese Informationen an das öffentliche Fernsehen weitergegeben, wenn auch mit dem Hinweis, dass es sich hier um eine ungeprüfte Darstellung einer einzigen Quelle handele. Bald stellte sich heraus, dass die Schilderung nicht der Wahrheit entsprach und eine Intrige der Staatssicherheit war, deren Motive und Ziele für diesen Schachzug allerdings nie endgültig geklärt werden konnten. Aber die Nachricht über den angeblichen Tod des Studenten Martin Šmíd verbreitete sich in wenigen Minuten in der ganzen Tschechoslowakei und weltweit. Sie hatte eine enorme Bedeutung, denn sie erschütterte das letzte Vertrauen in die kommunistischen Machthaber.
Die Demonstration am 17. November machte die Notwendigkeit deutlich, die bis dahin eher zaghaften Versuche in die Tat umzusetzen, neue Gruppen wie die unabhängigen Studentengruppen in die Dissidentenaktivitäten einzubinden. In der Folge begannen verschiedene Oppositionsgruppen eine einheitliche Front zu bilden und wirkten somit auf die ganze Gesellschaft ein.
Das Bürgerforum (Občanské fórum; OF) war die letzte Initiative, die aus dem Umfeld der Charta 77 kam. Seine Entstehung verdankte es dem rasanten Gang der Ereignisse während der Samtenen Revolution, die nach der Demonstration vom 17. November ausbrach. Nach zahlreichen Beratungen berief Václav Havel die Gründungsversammlung des Bürgerforums im Prager Schauspielclub (Činoherní klub) ein. Am Sonntag, den 19. November, trafen sich dort um 20 Uhr an die 200 Personen. Außer Dissidenten kamen auch Persönlichkeiten aus den verschiedensten Gesellschaftsschichten: Ökonomen, Wissenschaftler und akademische Dozenten, Künstler, Journalisten der staatlichen Medien sowie Mitglieder der beiden legalen nichtkommunistischen Parteien und mehrere Mitglieder der KSČ. Die Mehrheit der Teilnehmer kam aber aus dem Umfeld der Charta 77 und den unabhängigen Initiativen. Auf der Versammlung im Schauspielclub wurde eine Erklärung verlesen, die das Programm des Bürgerforums wurde. Dies war ein historischer Moment, da das Bürgerforum faktisch alle Kreise umfasste, die am Prozess des gesellschaftlichen Wandels teilnehmen wollten und konnten. Die Studentengruppen wurden von der Belegschaft der Hochschulen unterstützt und erfreuten sich breiter Anerkennung, vor allem wegen ihrer Spontaneität. Aus dem Künstlermilieu kamen viele bekannte Persönlichkeiten, hauptsächlich Schauspieler.
Die informelle Struktur des Bürgerforums entsprach der revolutionären Situation im Land und regte viele andere Initiativen an. Die Regierung war nicht ansatzweise in der Lage, die im ganzen Land entstehenden Gruppen des Bürgerforums zu verhindern. Der ursprüngliche Gründerkreis in Prag wurde bald in ein Koordinationszentrum umgewandelt, das durch die Unterstützung durch die zahlreichen Gruppen in den Regionen, Städten, Betrieben und Gemeinden ein nicht von der Hand zu weisendes – wenn auch nicht formal ausgesprochenes – Mandat für Verhandlungen mit den kommunistischen Machthabern erhielt.
Überraschend schnell unterstützten auch die Arbeiter die Idee dieser neuen Bewegung. Im Laufe weniger Tage entstanden in zahlreichen Betrieben Komitees des Bürgerforums, obwohl diese noch vor kurzer Zeit die traditionelle Stütze der Machthaber gewesen waren. Solche Komitees wurden ebenso in den staatlichen Verwaltungsbehörden, im Radio und Fernsehen gebildet. Das kommunistische Regime zerfiel buchstäblich von einem Tag auf den anderen. In den letzten Tagen seines Bestehens hatte es nur noch die Unterstützung der höheren und mittleren Parteifunktionäre, des Personals des Verteidigungs- und des Innenministeriums sowie der Freiwilligeneinheiten der Volksmiliz.
Am Montag, den 20. November, fanden auf dem Prager Wenzelsplatz und in vielen anderen Städten spontane Kundgebungen statt. Das Bürgerforum übernahm die organisatorische Betreuung der Demonstrationen, an denen tausende Menschen teilnahmen. Der Autorität des Bürgerforums ist es zu verdanken, dass diese Veranstaltungen ruhig verliefen. Anfänglich informierten die offiziellen Staatsmedien so gut wie gar nicht über diese Demonstrationen und wenn, dann verfälscht und in aggressivem Ton. Zu einem Kurswechsel kam es erst am 23. November, als sich die Mehrheit der Staatsmedien der Übertragung der Nachrichten von einer Kundgebung auf dem Wenzelsplatz des Senders Radio Freies Europa anschloss. Die Möglichkeit, dass sich etwas ändern könne, wurde somit auch an diejenigen weitergegeben, die bis zu diesem Zeitpunkt noch am skeptischsten waren: die Bewohner kleiner Städte und Dörfer.
Am Wochenende des 25. und 26. Novembers wurden die Demonstrationen auf die nördlich des Prager Stadtzentrums gelegenen Wiesen des Letná-Hügels verlegt. Die Wahl des Ortes war überaus passend. Im Angesicht der Prager Massen bot dieser Ort ausreichend Raum für die Gespräche des Bürgerforums mit den Machthabern. Die Organisatoren gaben auch dem damaligen Ministerpräsidenten Ladislav Adamec die Gelegenheit zu sprechen. Adamec sah sich selbst als Reformer und erwog die Möglichkeit seines Rücktritts für den Fall, dass das Bürgerforum im Gegenzug seine Präsidentschaftskandidatur unterstütze. Mit seiner Rede, die keinerlei Bezug zur aktuellen politischen Lage aufwies, erstickte er diese Möglichkeit selbst im Keim.