Das um die „Chronik der laufenden Ereignisse“ herum entstandene Netzwerk, das sich zunächst auf private Kontakte stützte, bildete im Grunde die erste Struktur der Dissidentengemeinschaft. Wesentlich dabei war, dass dieses System, das sich zunächst nur auf einige Städte erstreckte (Moskau, Leningrad, Kiew, Nowosibirsk, Riga, Tallinn, Wilna, Gorki, Odessa), schon bald alle größeren Städte im Land erfasste. Jeder im Bulletin neu auftauchende Ortsname war in der Regel auch gleichbedeutend mit einem neuen Korrespondenten vor Ort – einem ständigen oder zumindest einem einmaligen. Die kurze Anleitung, die sich nicht an den gewöhnlichen Leser des Bulletins, sondern an Leser richtete, die sich eine Betätigung als Korrespondenten vorstellen konnten, lautete wie folgt: „Versucht auf keinen Fall die gesamte Kette selbst zu durchlaufen, damit ihr nicht als Zuträger dasteht.“ Dieser Vorbehalt versieht die zuvor gemachte Feststellung, die Dissidententätigkeit habe einen offenen Charakter, mit einem Fragezeichen. In Wirklichkeit handelt es sich jedoch nur um einen scheinbaren Widerspruch: Bestimmte konspirative Elemente des „Untergrunds“ wie Anonymität der Redaktionsmitglieder und der Autoren sowie bestimmte Vorsichtsmaßnahmen der Redakteure waren lediglich eine Garantie für die technische Realisierung der Herausgabe der „Chronik der laufenden Ereignisse“. Diese Anmerkung betrifft auch jegliche andere systematische dissidentische Tätigkeit: Die technisch-organisatorische Seite war mehr oder weniger notgedrungen konspirativ, die Ergebnisse der Arbeit wurden jedoch offen der Gesellschaft präsentiert.
Der Aufbau des Bulletins kristallisierte sich schon in den ersten Ausgaben heraus. Im ersten Teil der „Chronik der laufenden Ereignisse“ gab es detaillierte Berichte über nach Meinung der Autoren wichtige Ereignisse, die seit dem Erscheinen der vorherigen Nummer stattgefunden hatten. Der zweite Teil enthielt folgende thematischen Blöcke: „Verhaftungen, Durchsuchungen, Verhöre“, „Außergerichtliche Repressionen“, „In Gefängnissen und Lagern“, „Samisdat-Neuerscheinungen“, „Kurzinformationen“ sowie „Korrekturen und Ergänzungen“. In späteren Jahren erweiterte sich das ursprüngliche Themenspektrum. Es kamen Rubriken hinzu, die neue Probleme aufgriffen, mit denen die Menschenrechtsbewegung befasst war, wie zum Beispiel: „Die Verfolgung Gläubiger“, „Die Verfolgung der Krimtataren“ oder „Repressionen in der Ukraine“. Anfang 1972 entstand die Rubrik „Die Verfolgung Gläubiger in Litauen“, die dann Mitte des Jahres den allgemeineren Titel „Ereignisse in Litauen“ erhielt und zu einer ständigen Rubrik wurde.
Unverändert hingegen blieb der zurückhaltende und unparteiische Stil des Bulletins, das größtmögliche Exaktheit und Vollständigkeit der Informationen anstrebte. Ohne Veränderung blieben auch die behandelten Themen: politische Verfolgung, Verletzung grundlegender Freiheiten und Bürgerrechte, Verteidigung von Bürgerrechten, Maßnahmen zur Durchsetzung dieser Rechte.
Die Herausgeber der „Chronik der laufenden Ereignisse“ machten ihre Namen nicht publik. Zu sagen, das Bulletin wäre unter den Bedingungen strengster Konspiration entstanden, wäre jedoch übertrieben. In den ersten anderthalb Jahren der Existenz der „Chronik“ war jedenfalls allgemein bekannt, dass die Hauptlast der Erarbeitung der Hefte auf den Schultern von Natalja Gorbanewskaja ruhte. Ihrem Einsatz war es zu verdanken, dass die ersten neun Ausgaben herausgegeben werden konnten; lediglich im Zusammenhang mit Nummer 3 nahm sie die Hilfe des Pädagogen und Dichters Ilja Gabaj und dessen Frau Galina in Anspruch.
Nach der Verhaftung von Natalja Gorbanewskaja im Dezember 1969 wurden die weiteren Nummern der „Chronik der laufenden Ereignisse“ mit vereinten Kräften herausgegeben. Die Zusammensetzung des Redaktionsteams änderte sich im Laufe der 15 Jahre mehrfach – vor allem aufgrund von Verhaftungen. Die wichtigsten Namen im Zusammenhang mit der „Chronik“ in verschiedenen Zeitabschnitten waren Anatoli Jakobson, Irina Jakir, Tatjana Welikanowa, Sergei Kowaljow, Alexander Lawut und Juri Schichanowitsch.
Die „Chronik der laufenden Ereignisse“ war für die Herausbildung der ersten Strukturen einer unabhängigen Öffentlichkeit in der UdSSR von historischer Bedeutung. Erstens war sie de facto der Auftakt für die Herausgabe von Samisdat-Zeitschriften wie „Sintaksis“ (Syntax) und einige spätere Publikationen in der ersten Hälfte der 60er Jahre, deren Thematik Poesie oder philosophisch-literarischer Natur war. Es kann also gesagt werden, dass mit der „Chronik der laufenden Ereignisse“ die Geschichte der freien Presse in der UdSSR begann.
Zweitens spielte die „Chronik der laufenden Ereignisse“ die entscheidende Rolle bei der Konsolidierung der Menschenrechtsbewegung. Durch ihren Verteilungsmechanismus und insbesondere durch den Mechanismus der Informationsbeschaffung und -sammlung entstand ein homogenes Informationsnetzwerk, das alle wichtigeren dissidentisch orientierten gesellschaftlichen Aktivitäten abdeckte. Die „Chronik“ prägte die Menschenrechtsbewegung in der UdSSR, sie war ihre Informations- und oft auch ihre Organisationsbasis.
Als sich später neue Institutionen der Bewegung formierten, verlor die „Chronik der laufenden Ereignisse“ diese Ausnahmestellung. Ihre Bedeutung als Chronik der Dissidentenbewegung blieb jedoch bestehen – auch noch nach der Entstehung der sowjetischen Helsinki-Bewegung im Jahre 1976.
Ab Herbst 1968 wurden innerhalb der Bewegung heftige Diskussionen über Formen und Methoden, über organisatorische Strukturen sowie über den Charakter der Bewegung insgesamt – ob politisch oder nicht politisch – geführt. Am Ende dieser Auseinandersetzungen stand die nicht so sehr in Dokumenten, dafür umso mehr in der Praxis zum Ausdruck kommende Konzeption einer Menschenrechtsbewegung, die zwar keine politischen Zielstellungen hatte, zugleich jedoch bestimmte Organisationsformen unter der Prämisse nicht ausschloss, dass die Aktivitäten öffentlichen Charakter trugen.