In Russland (wie auch in Teilen der Ukraine) bildeten nicht so sehr soziale oder politische Probleme den Nährboden für die Entstehung des Dissidententums, sondern vor allem kulturelle und hauptsächlich literarische Fragen sowie das Geistesleben im weitesten Sinne. In den 50er und 60er Jahren kam es zu einer Konfrontation zwischen dem Freidenkertum eines bedeutenden Teils der Intelligenz und weit verbreiteten systemkonformen Ansichten und Verhaltensweisen. Im gesellschaftlichen Bewusstsein wurde diese Konfrontation als ein Kampf zwischen den „Stalinisten“ und den „Antistalinisten“ wahrgenommen. Vertreter konservativer Strömungen galten als „Stalinisten“ – und zwar unabhängig davon, ob sie offen ihre Sympathie mit dem verstorbenen Diktator zeigten, was unter Chruschtschow nicht gern gesehen wurde, oder aber nur ihre aktive Teilnahme an Kampagnen zur Entlarvung des „Personenkultes“ verweigerten. Auf den „Antistalinismus“ von Kulturaktivisten wurde nicht auf Basis einer offen deklarierten negativen Haltung zu Stalin geschlossen, sondern aufgrund von Standpunkten, die diese Aktivisten im Kampf um geistige und künstlerische Freiheit vertraten.
Zugleich wurden viele historische Probleme ebenso polemisch diskutiert wie Fragen der künstlerischen Freiheit. Dazu gehörten Fragen der jüngsten Vergangenheit, die unter Chruschtschow nicht an die Öffentlichkeit gebracht oder nur oberflächlich diskutiert wurden wie zum Beispiel die Kollektivierung der Landwirtschaft, die Verantwortung Stalins für die Niederlagen in der ersten Phase des Zweiten Weltkrieges, die stalinistische Verfolgung von Wissenschaftlern oder auch die chauvinistischen und antisemitischen Kampagnen gegen den „Kosmopolitismus“ von 1948 bis 1953. Die sowjetische Geschichte wurde genauso wie auch die sowjetische Kultur zum Schauplatz des Kampfes zwischen Liberalen und Konservativen; historische Abhandlungen wurden ebenso erbittert diskutiert wie literarische Werke. Mitunter ist es schwer, hier eine klare Trennlinie zu ziehen. So waren die Novellen und Erzählungen von Alexander Solschenizyn, Juri Dombrowski, Sergei Zalygin und vieler anderer Autoren der Monatsschrift „Novyj mir“ erst einmal belletristische Werke, von den Lesern wurden sie jedoch zugleich als wichtige Wortmeldungen in den Auseinandersetzungen um die Vergangenheit betrachtet. Ab Mitte der 60er Jahre ebbten diese Diskussionen ein wenig ab: Die Breschnew-Politik im Bereich der Zensur erlaubte einerseits gewisse künstlerische Freiheiten, reagierte andererseits jedoch mit der Zeit immer entschiedener auf sogenannte ideologische „Abweichungen“ in der Publizistik zu historischen Themen.
Die Möglichkeit, diese Werte – außerhalb des Systems, aber dennoch nicht im Untergrund, sondern öffentlich – im kulturellen und zivilgesellschaftlichen Leben zu realisieren, bot sich 1959, nachdem die von Alexander Ginsburg herausgegebene Samisdatreihe „Sintaksis“ (Syntax) erschienen war. Diese ganz gewöhnliche Sammlung von maschinengeschriebenen Gedichten verschiedener Autoren hatte die Gestalt einer Almanach-Reihe mit eigenem Namen. Enthalten war stets die Ankündigung für die Fortsetzung der Reihe und in jeder Ausgabe wurden die Namen der Autoren direkt auf der Titelseite aufgelistet. Die Leser interpretierten dies als Unabhängigkeitserklärung im kulturellen Bereich.
Allein an der Idee, einen solchen Almanach herauszubringen, lassen sich zwei wesentliche Merkmale dissidentischen Wirkens erkennen. So ist das Freidenkertum der Dissidenten zuallererst ein öffentliches Freidenkertum. Seine Charakteristika sind Öffentlichkeit, Offenheit und der bewusste Verzicht auf die Anonymität des Untergrunds. (Dazu passt der Titel, den Pjotr Grigorenko später seinen Erinnerungen gab: „Im Untergrund trifft man nur Ratten …“/V podpole možno vstretit‘ tol’ko krys …). Das zweite Merkmal wurde von Andrei Sacharow als „öffentliche Realisierung individueller Rechte und Freiheiten“ bezeichnet.
Im Grunde genommen handelte es sich hierbei nicht um einen Kampf gegen das Regime, obgleich die Staatsmacht dies natürlich als einen solchen interpretierte. Es war ein Kampf für die Unabhängigkeit von den ideologischen Prinzipien des Regimes und anfangs auch für die Befreiung von der sinnlosen und ignoranten Kontrolle des Geisteslebens. In ihrer frühen Phase gingen die Dissidenten davon aus, dass die kulturelle – und später auch die zivilgesellschaftliche – Initiative im Recht war, wenn sie verdeckte Verbote ganz einfach missachtete, da diese für sie jeder gesetzlichen Grundlage entbehrten.
All dies war im Grunde neu für die Sowjetbürger. Es war zugleich etwas Attraktives, etwas, was den Menschen erlaubte, sich in aller Offenheit auszudrücken, ohne in den Untergrund auszuweichen. „Unabhängigkeit“ wurde zum Schlüsselbegriff für dieses soziale Verhalten, das dann später, nach 15 Jahren, „dissidentisches“ Verhalten genannt wurde. Die Menschen, die systematisch nach diesem Muster handelten, wurden zu „Dissidenten“.
Eine offene Inanspruchnahme von Rechten und Freiheiten konnte zum Beispiel auch eine Ausstellung mit nonkonformistischer Malerei in einer Privatwohnung sein. Die ersten Veranstaltungen dieser Art organisierte Ende der 50er Jahre die sich aus Malern und Dichtern rekrutierende Lianosowo-Gruppe, benannt nach einem Moskauer Stadtbezirk. Mit ihren Vernissagen in verschiedenen Wohnungen zeigten sie, dass unabhängige Ausdrucksformen nicht nur in Bezug auf den Inhalt von Kunstwerken, sondern auch durch die Art und Weise ihrer Verbreitung möglich waren. Solche Initiativen wurden oftmals als Alternative zum offiziellen Kunstbetrieb breit wahrgenommen und zeugten vom Streben nach Unabhängigkeit.
In der Literatur gilt als erster dissidentischer Meilenstein die ein breites Echo auslösende Entscheidung von Boris Pasternak, seinen von der sowjetischen Zensur abgelehnten Roman „Doktor Schiwago“ (Doktor Živago) in Italien herauszubringen. Diese Veröffentlichung im Ausland machte den Autor weltberühmt und führte dazu, dass ihm der Literaturnobelpreis verliehen wurde. Die sowjetische Presse entfachte daraufhin eine beispiellose Hetzkampagne gegen ihn. Pasternak wurde aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen; bestimmte Partei- und Regierungskreise drohten damit, ihn des Landes zu verweisen. Die Aktion Pasternaks blieb indes trotz des enormen Einflusses, die sie auf das gesellschaftliche Bewusstsein im Land ausübte, noch eine gewisse Zeit lang eine isolierte Geste.