In den 70er Jahren wurden die Dissidenten schon nicht mehr als verirrte Lämmer betrachtet, die der westlichen Umsturzpropaganda zum Opfer gefallen waren, sondern als ideologische Fahnenflüchtige und unverblümte Agenten des Weltimperialismus, mit einem Wort: als Verräter. Ob die Urheber dieser Propaganda selbst daran glaubten? In für den Dienstgebrauch bestimmten Dokumenten des ZK der KPdSU und des KGB tauchte die mit dem „Weltimperialismus“ verbundene Rhetorik relativ selten auf, sie hatte dann jedoch einen eindeutig rituellen Charakter. Vom Inhalt her sprechen diese Dokumente eine völlig andere Sprache. So unterstrich KGB-Chef Juri Andropow in zwei Dienstvermerken an das ZK der KPdSU im Winter 1974/75, dass die Verhaftungen von Andersdenkenden in der UdSSR einen rein regulativen Charakter besäßen: Verhaftet würden gerade so viele Leute, wie verhaftet werden müssten, damit die Situation nicht außer Kontrolle gerate. Andropow konnte wahrscheinlich nie die Ungarische Revolution 1956 vergessen, wo er damals sowjetischer Botschafter gewesen war. Von seiner Warte aus stellte jede unabhängige gesellschaftliche Tätigkeit, sobald sie eine bestimmte „kritische Masse“ erreichte, eine Bedrohung für die Stabilität der sowjetischen Staatsordnung dar.
Die Perestroika in der zweiten Hälfte der 80er Jahre, an der die Dissidenten der vorhergehenden Epoche keinen wesentlichen Anteil hatten, zeigte, dass die Befürchtungen des KGB-Chefs nicht ganz aus der Luft gegriffen waren. Aber heißt das, dass die Dissidenten eine politische Opposition waren, deren Ziel der Sturz der bestehenden Ordnung war? Denn so ordnen viele Publizisten, ja sogar einige Historiker, die Aktivitäten der Dissidenten heute ein.
Es fällt schwer, dieser Auffassung zuzustimmen. Die nationalen Bewegungen in den baltischen Sowjetrepubliken, in Georgien, Armenien und zum Teil auch in der Ukraine hatten sich in der Tat – in der weiteren Perspektive – derartige Ziele gestellt: den Austritt aus der Sowjetunion und die Erlangung staatlicher Unabhängigkeit. Auch einige prominente russische Dissidenten verstanden ihre Arbeit in einem solchen politischen Sinne. Wladimir Bukowski, Walerija Nowodworskaja und eine Reihe anderer Aktivisten sahen im Kampf gegen das sowjetische System die grundlegende Motivation ihrer gesellschaftlichen Aktivität. Unter den russischen Dissidenten der Jahre 1960 bis 1980 waren Vertreter ganz unterschiedlicher politisch-ideologischer Provenienz: Da gab es Kommunisten, Sozialdemokraten, Anarchisten, Liberale, Nationalisten, Monarchisten und sogar Anhänger verschiedener Formen des Faschismus. Die dissidentische Tätigkeit einiger Aktivisten war darauf orientiert, diese von ihnen vertretenen politischen Konzeptionen zu propagieren. Insgesamt jedoch wurde der Rahmen für Inhalt und Sinn dissidentischer Arbeit nicht so sehr durch ihren oppositionellen Charakter oder die politisch-ideologischen Ambitionen einzelner Aktivisten abgesteckt, sondern durch das Missachten eines nicht offen ausgesprochenen Verbots unabhängigen Engagements. Hier ging es beileibe nicht nur und nicht vordergründig um politisches Agieren, sondern vor allem um zivilgesellschaftliches, kulturelles, religiöses, nationales und soziales Engagement. Andrei Sacharow beschrieb in seinen Erinnerungen sehr treffend den Sinn dissidentischer Arbeit als „Wahrnehmung von Rechten und Freiheiten in öffentlicher Weise“. Andrei Amalrik formulierte denselben Gedanken anders: „Die Dissidenten […] vollbrachten etwas genial Einfaches: In einem versklavten Land begannen sie sich wie freie Menschen zu benehmen.“
Die Staatsmacht, die alle Dissidenten als politische Oppositionelle behandelte, hatte aus ihrer Perspektive betrachtet absolut recht – war doch das bestimmende Merkmal oder Charakteristikum des Regimes eben die Unzulässigkeit einer wie auch immer gearteten gesellschaftlichen Aktivität, die unabhängig von den Herrschenden existierte und von diesen nicht kontrolliert werden konnte. Anders formuliert war die Etablierung unabhängiger zivilgesellschaftlicher Institutionen (besonders solcher, deren Anliegen die Menschenrechte waren) sowie die Schaffung einer freien Presse im Samisdat das Verdienst der russischen Dissidentenbewegung.
Als weitere Elemente der Zivilgesellschaft müssen die gesellschaftliche Resonanz der unabhängigen Kultur und Wissenschaft, insbesondere der Geisteswissenschaften, sowie soziale und Bildungsaspekte des religiösen Lebens in Glaubensgemeinschaften und Kirchengemeinden genannt werden. Das System zur Unterstützung von politischen Häftlingen und deren Familien war ebenso ein Beleg für die Wiedergeburt der gesellschaftlichen Initiative im karitativen Bereich. Bereits erwähnt wurden die Versuche der Schaffung unabhängiger Gewerkschaften.
Natürlich ist es gewagt zu behaupten, die Dissidenten hätten in Russland die Zivilgesellschaft neu gegründet. Dazu war ihre Anzahl zu gering und die Repressionen zu drastisch. Dass die Dissidenten es aber schafften, das Urbild einer solchen zivilen Gesellschaft zu schaffen (und dies inmitten eines zwar alternden und schwächelnden, aber dennoch mit allen Machtmitteln ausgestatteten totalitären Regimes), verdeutlicht ihre gewichtige Stellung.
Genau aus diesem Grund sind die historischen Erfahrungen der Dissidenten auch heute für die gesellschaftliche, politische und kulturelle Entwicklung Russlands so wertvoll. Im neuen Russland der 90er Jahre bildeten die Dissidenten keine separate politische Kraft. Es gab ganz einfach kein einheitliches positives politisches Programm, um das sie sich hätten scharen können. Der Anteil der ehemaligen russischen Dissidenten an der Gestaltung der neuen russischen Politik war aus diesem Grund eher marginal, er reduzierte sich im Grunde weiterhin mehr oder weniger erfolgreich auf die Verteidigung der Menschenrechte und war eher die Ausnahme denn die Regel. Heute sind frühere russische Dissidenten in allen Bereichen der russischen Gesellschaft anzutreffen, nie jedoch in höheren Positionen.
Im heutigen Russland repräsentieren nicht die politischen Parteien das Erbe der russischen Dissidentenerfahrungen, sondern die zivilgesellschaftlichen Organisationen, die sich vor allem für die Menschenrechte einsetzen, wenn auch nicht ausschließlich. Diese Erfahrungen bildeten ganz allgemein die Grundlage für das Wirken unabhängiger zivilgesellschaftlicher Organisationen, die den Kern und zugleich das einzige wirklich aktive und sich rasch entwickelnde Element des „dritten Sektors“ in Russland darstellen. Die in Jahrzehnten dissidentischen Engagements herausgearbeiteten Prinzipien des gesellschaftlichen Zusammenlebens bildeten auch den Ausgangspunkt für die meisten Gründer von Bürgerinitiativen – sowohl für solche, die in der Vergangenheit selbst praktizierende Dissidenten waren, als auch für Vertreter der neuen Generation, die solche Erfahrungen persönlich nicht gemacht hatten.
Es existiert also noch so etwas wie ein „dissidentisches Programm“ in Russland. Dieses Programm ist nicht auf eine Perspektive in der unmittelbaren Zukunft ausgerichtet, sondern eher so etwas wie eine fundamentale Weltsicht, aus der sich grundlegende Ziele, Prinzipien und Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens ableiten lassen. Es ist kein politisches Projekt im engeren Sinne, sondern mehr als das, nämlich eine alternative Kultur bürgerlichen Engagements.