Zu den wichtigsten Werten, die sich die Menschenrechtsbewegung in der UdSSR auf die Fahnen geschrieben hatte, gehörten Meinungsfreiheit, Gewissensfreiheit und die freie Wahl des Wohnortes. Das ging nicht auf irgendwelche abstrakten Grundsätze zurück, sondern entsprang auf natürliche Weise der Wirklichkeit des sowjetischen Alltags. Zu diesen grundlegenden Freiheiten fügten einige Oppositionelle noch das Selbstbestimmungsrecht der Völker hinzu, wichtig insbesondere für viele national orientierte Dissidenten. In der sowjetischen Menschenrechtsbewegung gab es jedoch in dieser Frage keine Einigkeit. Die Haltungen zum Selbstbestimmungsrecht reichte von bedingungsloser Zustimmung (Andrei Sacharow) bis hin zu ernsten Zweifeln an der Begründbarkeit dieses Rechts (Sergei Kowaljow) sowie an den Möglichkeiten seiner Verwirklichung (Igor Schafarewitsch). Die Oppositionellen waren sich nur in einem einig: Alle Menschen haben das Recht, ihre Ansichten zu äußern, ohne Angst vor politischen Repressionen haben zu müssen.
Enorme Bedeutung für die Perspektiverweiterung der Moskauer Dissidenten hatte Ende 1967 die Samisdatausgabe der Erinnerungen von Anatoli Martschenko. Er, der aus Arbeiterkreisen stammte, hatte von 1960 bis 1966 eine Strafe in den *mordwinischen Lagern (DubrawLag) und im *Wladimir-Gefängnis verbüßt. Sein Buch rückte die aktuellen politischen Repressionen, die Schicksale politischer Gefangener – gerade nicht zu stalinistischen Zeiten, sondern im Hier und Jetzt –, die die Moskauer Intellektuellen bislang nur aus unklaren Gerüchten gekannt hatten, ins Bewusstsein der Menschenrechtsaktivisten. Dieser Frage widmeten sie fortan ihre verstärkte Aufmerksamkeit.
In einigen Intellektuellenkreisen wurde dieses Thema bereits anderthalb Jahre früher aufgegriffen, als die beiden verurteilten Schriftsteller Juli Daniel und Andrei Sinjawski im DubrawLag in Lagerhaft genommen worden waren. Die ukrainische Intelligenz erfuhr von den *mordwinischen Lagern zur gleichen Zeit: Anfang 1966 war die ukrainische *Generation der Sechziger ins DubrawLag gebracht worden, welche der *ersten Verhaftungswelle in der Ukraine von August bis September 1965 zum Opfer gefallen war. Auch Personen, die wegen „antisowjetischer Propaganda und Agitation“ verurteilt worden waren, kamen dorthin. Die Entsprechung von Martschenkos Buch im ukrainischen Samisdat stellte 1967 ein Essay des politischen Häftlings und Journalisten Walentin Moros über die *mordwinischen Lager mit dem Titel „Reportage aus dem Berija-Reservat“ (Reportaž iz zapovidnika imeni Beriji) dar.
Je bekannter die Tatsache wurde, dass es in Moskau eine Gruppe von Personen gab, die das Risiko eingingen, Menschenrechtsverletzungen und politische Repressionen öffentlich zu machen, desto größer wurde der Strom eingehender Informationen. Auch wurde vielen die Schlüsselrolle bewusst, die der Samisdat in diesem Prozess spielte. Der neue Informationsfluss erfasste immer weitere und neue Gebiete. Der Konsolidierungsprozess der Menschenrechtsbewegung mündete schließlich in die Gründung der zwei für die damalige Zeit wichtigsten Institutionen: der *„Chronik der laufenden Ereignisse“ im April 1968 sowie der *Initiativgruppe zur Verteidigung der Menschenrechte in der UdSSR im Mai 1969.
Die *„Chronik der laufenden Ereignisse“ war ein mit der Schreibmaschine vervielfältigtes Informationsbulletin der sowjetischen Menschenrechtsbewegung, das 15 Jahre lang von 1968 bis 1983 herausgegeben wurde. Insgesamt wurden in diesem Zeitraum 65 Ausgaben erarbeitet, 63 davon sind erschienen. Über all die Jahre hinweg bildete die *„Chronik der laufenden Ereignisse“ den Grundpfeiler der Menschenrechtsbewegung, sie war zudem der erste Schritt auf dem Weg zur Schaffung einer eigenen inneren Struktur.
Die letzte Ausgabe (Nummer 64) trägt die Jahreszahl 1982, wurde jedoch erst im Herbst 1983 hergestellt. Zu dieser Zeit schaffte es die *„Chronik der laufenden Ereignisse“ nicht mehr, die Informationsflut zu beherrschen, so dass die Ausgaben mit erheblicher Verspätung erschienen. Die Diskrepanz zwischen der Anzahl der fertiggestellten und der Anzahl der wirklich erschienenen Ausgaben lässt sich damit erklären, dass die schon fast fertige Nummer 59 anlässlich einer Wohnungsdurchsuchung bei Leonid Wul, einem der Redakteure im Februar 1981 beschlagnahmt wurde. Man entschied, die Nummer 59 nicht zu rekonstruieren, sondern gleich die Arbeiten an Nummer 60 aufzunehmen. Außerdem wurde die letzte Ausgabe (Nummer 65) weder im Samisdat noch im Ausland veröffentlicht. Das maschinengeschriebene Exemplar, das von Boris Smuschkewitsch, einem der Autoren der letzten Ausgaben aufbewahrt wurde, befindet sich heute im Archiv der Menschenrechtsorganisation *Memorial (Repositur 153). Die Texte aller Ausgaben der „Chronik“, abgesehen von denen der beschlagnahmten Nummer 59, sind auf der *Memorial-Website zugänglich (www.memo.ru). *Memorial arbeitet zudem an einer vollständigen Buchausgabe des Bulletins mit detaillierten und ausführlichen Kommentaren.
Das Bulletin, dessen anfängliche Auflage aus zirka zehn bis zwölf Exemplaren bestand, wurde zu Hunderten per Schreibmaschine kopiert und im ganzen Land verteilt. Dies war ein für den Samisdat typischer Mechanismus. Gleichzeitig konnte man ein grundsätzlich neues Phänomen beobachten: Die weitverzweigten Vertriebskanäle funktionierten auch in umgekehrter Richtung, indem Material und Informationen für neue Ausgaben des Bulletins an die Redaktion flossen. Dieses besondere und vermutlich nirgendwo sonst im sowjetischen Samisdat existierende System der Leser-Rückkopplung wurde in aller Kürze in Nummer 5 der *„Chronik der laufenden Ereignisse“ vom 31. Dezember 1968 beschrieben: „Jeder, der Wert darauf legt, dass die sowjetische Öffentlichkeit über aktuelle Ereignisse im Land informiert ist, kann ohne Probleme seine Informationen der ‚Chronik‘ zur Verfügung stellen. Dazu reicht es, die Person zu informieren, von der er die ‚Chronik‘ bekommen hat, und diese übermittelt die Informationen wiederum demjenigen, von dem sie die ‚Chronik‘ erhalten hat usw.“