Zeitgleich mit Pasternak, aber sicherlich unabhängig von ihm, hatte auch Andrei Sinjawski seine Werke zur Veröffentlichung in den Westen übermittelt. In den Folgejahren wählten auch andere diesen Weg zur Verwirklichung ihrer schriftstellerischen Freiheit. Neben vielen weniger bekannten Autoren waren dies auch Juli Daniel, Michail Nariza, Alexander Jessenin-Wolpin, Waleri Tarsis, Jewgeni Jewtuschenko, wovon die drei letztgenannten Dichter ebenso wie auch Pasternak unter ihrem richtigen Namen publizierten. Von Andrei Sinjawski und Juli Daniel wird weiter unten noch die Rede sein; Alexander Jessenin-Wolpin und Waleri Tarsis wurden als „psychisch Kranke“ verfolgt, Tarsis 1966 die sowjetische Staatsbürgerschaft entzogen. Bei Jewtuschenko, der im Westen seine Autobiografie veröffentlicht hatte, beschränkten sich die zuständigen Chefideologen darauf, ihn in der Presse zu verurteilen. Später wurde die Übergabe von Manuskripten an ausländische Verlage schon fast zum Standardverfahren für sowjetische Schriftsteller, die ihre Werke ohne Einmischung der Zensur veröffentlichen wollten. Die Repressalien gegen solche Personen fielen für sowjetische Verhältnisse recht milde aus, Verhaftungen gab es hier nur wenige.
Einen wichtigen Beitrag zur Herausbildung von dissidentischem Handeln haben auch die 1958–60 regelmäßig stattfindenden Dichterlesungen auf dem Majakowski-Platz in Moskau geleistet. Dort fanden sich versprengt agierende Dichterkreise zu einer Gemeinschaft zusammen, die sich der Staatsmacht entgegenstellte und in der nicht nur auf die Kunst beschränkte Diskussionen geführt wurden. An diese oppositionellen Erfahrungen knüpften deren Nachfolger im ersten unabhängigen Literaturverein SMOG genauso an wie später die sowjetische Menschenrechtsbewegung. Der Majakowski-Platz findet sich in den Biografien vieler bedeutender Vertreter sowjetischer Dissidentengruppen wieder. Zu ihnen gehörten Wladimir Bukowski, Juri Galanskow, Wladimir Ossipow und Eduard Kusnezow. Lose mit diesen Kreisen verbunden waren auch Grigori Pomeranz, Natalja Gorbanewskaja sowie der bereits erwähnte Alexander Ginsburg.
Nicht nur Literatur und Kunst, sondern auch ein bedeutender Teil der bereits erwähnten Auseinandersetzungen über die Vergangenheit überschritt bereits zu Chruschtschows Zeiten den durch die Zensur vorgegebenen Rahmen. Viele wichtige Diskussionsbeiträge zu historischen Fragen wurden aus der sowjetischen Presse verbannt und erschienen im Samisdat, wo sie einen deutlich dissidentischen Ton annahmen. Beispiele für solche Beiträge waren der offene Brief des Publizisten Ernst Henry – eigentlich Leonid Chentow – an Ilja Ehrenburg, in dem er bestimmte „prostalinistische“ Akzente in dessen zweifellos sehr mutigen antistalinistischen Tagebüchern kritisierte, die Erzählungen von Warlam Schalamow und die Erinnerungen von Jewgenija Ginsburg. Hinzu kamen die im Samisdat herausgegebenen Arbeiten von Roi Medwedew („Das Urteil der Geschichte“/K sudu istorii), von Schores Medwedew („Zur Situation in der biologischen Wissenschaft“/O položenii w biologičeskoj nauke) und von Mark Popowski sowie das Stenogramm der Diskussion zum Buch „1941, 22. Juni“ (1941, 22 ijunija) von Alexander Nekritsch am Institut für Marxismus-Leninismus. Nach dem Sturz Chruschtschows war fast der gesamte wissenschaftlich-publizistische Vergangenheitsdiskurs auf den Samisdat angewiesen.
Alles bisher Gesagte bezieht sich vor allem auf Moskau und Leningrad (St. Petersburg). Weit weniger sichtbar waren in der ersten Hälfte der 60er Jahre die Auseinandersetzungen zwischen der freidenkerischen Intelligenz und den lokalen Machtorganen in der russischen Provinz und im russischsprachigen Milieu anderer Sowjetrepubliken. Gleiches galt für die Auseinandersetzungen innerhalb der Intelligenz zwischen Befürwortern einer authentischen Bildungsarbeit innerhalb des Systems und den Anhängern eines „dritten Weges“. Jedoch entstanden auch außerhalb der Großstädte spontan halboffizielle und eindeutig inoffizielle intellektuelle Salons, Diskussionskreise, Klubs und Bildungsangebote unter anderem in Gorki, Charkow, Odessa, Nowosibirsk, Tallinn, Tartu , Tomsk, Taschkent, Alma Ata und anderswo. Zu wahren Keimzellen unabhängigen Denkens wurden die sogenannten Wissenschaftsstädte oder „naukogrady“, die noch unter Chruschtschow als regionale Zentren für Grundlagen- und angewandte Forschung sowie industrietechnologische Forschung und Entwicklung gegründet worden waren. Das Leben in diesen Städten war weniger reglementiert als in den übrigen Landesteilen, und deren Bewohner erfreuten sich inoffiziell zugelassener akademischer Freiheiten. Dies galt insbesondere für die größte dieser Wissenschaftsstädte: Akademgorod in Nowosibirsk. Das freie Denken blühte in den 60er Jahren auch in den übrigen Wissenschaftsstädten und -zentren wie zum Beispiel in Protwino bei Moskau, Puschtschino, Tschernogolowka, Mendelejewo, Dubna sowie in traditionellen Universitätsstädten wie Tomsk oder Tartu.
Alle diese inoffiziellen und von der Staatsmacht oftmals bekämpften Zentren humanistischer Bildung bildeten in den 60er Jahren die Keimzelle der unabhängigen russischen Literaturwissenschaft, Philosophie, Soziologie und des ökonomischen Denkens. Sie legten den Grundstock für den Transfer von im weitesten Sinne dissidentischem Gedankengut aus der Hauptstadt in die Provinz. Es entstand ein Netz persönlicher Kontakte, das sich stetig festigte und die Grundlage für das einige Jahre später etablierte Korrespondentennetzwerk der Menschenrechtsbewegung bildete.
Falsch wäre es zu behaupten, dissidentisches Engagement sei ein Vorrecht von Vertretern intellektueller Zirkel im künstlerischen Bereich gewesen. Erstens bildeten in den 60er Jahren Naturwissenschaftler immer noch eine homogene soziokulturelle Gruppe zusammen mit den Geisteswissenschaftlern, mit denen sie zudem eine ähnliche Art zu denken verband. Viele von ihnen hatten bereits die ignorante Einmischung der Partei in wissenschaftliche Fragen erlebt, die Angriffe auf die moderne Genetik, Mikrobiologie, Kybernetik und andere Fachgebiete. Zu den bekanntesten Dissidenten zählten nicht zuletzt der Biologe Sergei Kowaljow und der Physiker Andrei Sacharow.
Zweitens war das bewusste, offene und demonstrative Ignorieren ideologischer Verbote zu allen Zeiten charakteristisch für die sozialen Verhaltensweisen der russischen „einsamen Wahrheitssucher“. Diese finden sich sowohl unter Geistes- und Naturwissenschaftlern der intellektuellen Elite als auch unter Journalisten, Ingenieuren aus Industriebetrieben, Ökonomen aus der Wirtschaftspraxis, unter Soziologen, in der Arbeiterklasse und sogar in den Reihen der Funktionäre des Partei- und Staatsapparates. Beredtes Beispiel der letztgenannten Möglichkeit ist das Schicksal zweier Parteifunktionäre: Nikolai Chudenko war hoher Beamter beim Ministerrat und übernahm freiwillige Aufgaben „an der Basis“, wo er als Sowchosedirektor innovative und ökonomische Lösungen implementierte. Er wurde wegen angeblicher „Aneignung von Staatseigentum“ verurteilt und starb im Gefängnis. Erwähnt sei auch Iwan Jachimowitsch, der ursprünglich Kolchosedirektor war, später jedoch Anschluss an die Menschenrechtsbewegung fand.