In der Menschenrechtsbewegung selbst kam es, wie in jeder gesellschaftlichen Bewegung, zu einer zunehmenden Professionalisierung und Spezialisierung. Ein Beleg hierfür war die Entstehung unabhängiger Menschenrechtsorganisationen. Spannt man den Bogen von der Gründung der *Initiativgruppe zur Verteidigung der Menschenrechte in der UdSSR (1969) bis hin zur Etablierung der Helsinki-Gruppen (1976–79) so wird ersichtlich, dass sich der Sinn des gesellschaftlichen Protestes geändert hatte: von existentiell geprägten Unmutsbekundungen („Ich darf nicht schweigen!“) bis hin zu professionell formulierten gesellschaftlichen Aufgaben wie dem Sammeln, Überprüfen und systematischen Erfassen von Menschenrechtsverletzungen sowie deren Weitergabe an interessierte Personen und Organisationen.
1972/73 kam es zu einer Krise in der Menschenrechtsbewegung. Externer Grund für diese Krise war die Verhaftung der beiden führenden Menschenrechtler *Pjotr Jakir und Wiktor Krassin. Während der Ermittlungen machten Jakir und Krassin umfangreiche und detaillierte Aussagen zu ihrer eigenen und zur Tätigkeit Dutzender weiterer Mitglieder der Bewegung. Aus dem Gefängnis informierten sie ihre Weggefährten über ihren Meinungswandel und riefen andere Bürgerrechtler zu einer „ehrenhaften Kapitulation“ gegenüber den Machthabern auf. Nach dem Prozess äußerten sie auf einer vom Fernsehen übertragenen Pressekonferenz öffentlich Reue. Das gesellschaftliche Ansehen der Dissidenten litt darunter sehr. Im selben Zeitraum schaffte es der KGB mit Hilfe von Erpressungen und Drohungen, die *„Chronik der laufenden Ereignisse“ aufzulösen (und zwar für immer, wie es damals schien).
Für die Krise war jedoch nicht nur die neue Repressionsoffensive des Regimes verantwortlich, die die Ausmerzung abweichender Meinungen zum Ziel hatte. Nicht die persönliche Schwäche einiger führender Aktivisten im Zusammenhang mit ihrer Verhaftung und den folgenden Prozessen war entscheidend, sondern vielmehr innere Ursachen. In erster Linie ist hier der lediglich „symbolische“ Charakter eines großen Teils der dissidentischen Tätigkeit im Zeitraum vor der Krise zu nennen. Diese Tätigkeit hatte oft weder mit konkretem, nützlichem Engagement noch mit intensiver intellektueller Arbeit zu tun. Ein „dissidentischer Akt“, wie es schon die Unterzeichnung eines Protestbriefes sein konnte, diente meistens der symbolischen Selbstbestätigung; der weitere Verlauf der Ereignisse hing dann von der persönlichen Entschlossenheit des Unterzeichners AB. Die scheinbare Leichtigkeit des Überschreitens der Grenzen des Unerlaubten schuf die Möglichkeit eines „Salon-Dissidententums“, das zwar nicht vor bestimmten Konsequenzen schützte, aber zugleich das Gefühl der Verantwortung und der Solidarität schwächte. Die genannten Faktoren führten dazu, dass sich der Rückhalt für die Dissidenten vonseiten ihrer natürlichen sozialen Basis – der freidenkerischen Intelligenz – verringerte. Die Intelligenz hatte zu den Aktivisten der Bewegung sowieso ein eher zwiespältiges Verhältnis: einerseits Respekt, andererseits aber auch Skepsis.
Um ihre beschädigte moralische und soziale Identität wiederherzustellen, musste die Bürgerrechtsbewegung ganz einfach diese Krise durchstehen, die letztendlich die verbliebenen Dissidenten dazu zwang, ihr Fundament aus Werten wie Professionalismus, systematischer Arbeit und interessenspezifischer Spezialisierung auszubauen.
Ein Vorbote der neuen Etappe in der Entwicklung der Dissidentenbewegung war das erneute Erscheinen der *„Chronik der laufenden Ereignisse“ im Frühjahr 1974. Weitere Schritte waren die Gründung der *Moskauer Helsinki-Gruppe sowie die Anfänge der Helsinki-Bewegung.
Die Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) in Helsinki vom 2. August 1975 war nicht das erste auch von der UdSSR unterzeichnete internationale Dokument zur Achtung der Menschenrechte. Vermutlich hatte jedoch auch im Westen niemand Illusionen in Bezug auf die Umsetzung der getroffenen Vereinbarungen durch die Sowjetunion. Zum ersten Mal in der sowjetischen Geschichte machte sich jedoch eine neue Kraft geltend: die unabhängige Öffentlichkeit.
Am 12. Mai 1976 gab Juri Orlow auf einer Pressekonferenz für ausländische Journalisten die Gründung einer neuen Menschenrechtsorganisation in Moskau bekannt. Der Name dieser Gruppe war „Gesellschaftliche Unterstützungsgruppe für die Umsetzung der Helsinkier Vereinbarungen in der UdSSR“. Zu ihren Aufgaben gehörte das Sammeln, Überprüfen, Analysieren und allgemeine Einordnen jeglicher Informationen über Verstöße gegen die in „Korb III“ der KSZE-Schlussakte genannten Empfehlungen. Auf Grundlage der gesammelten Daten entstanden Dokumente (im Laufe der sechs Jahre des Bestehens der Gruppe insgesamt 194), die an die Unterzeichnerstaaten, darunter auch an die sowjetische Regierung, und an internationale Organisationen geschickt wurden. Dies war mehr als ein bloßer Protest gegen Unrecht: Die Arbeit der neuen Organisation verknüpfte die Protestformen der früheren *Initiativgruppe zur Verteidigung der Menschenrechte in der UdSSR mit dem Fachwissen der Experten aus dem *Komitee für Menschenrechte in der UdSSR.
In der *Moskauer Helsinki-Gruppe, wie die Gruppe bald genannt wurde, engagierten sich viele damals prominente Menschen- und Bürgerrechtler. Die Gesellschaft erfuhr von deren Existenz wie üblich erst in ausländischen Rundfunksendern. Sehr schnell erhielt die Gruppe eine Flut von Informationen über Menschenrechtsverletzungen – und das hauptsächlich von Menschen, die vorher keinerlei Verbindungen zu den Dissidenten hatten. Die Dokumente der Gruppe zeichneten sich durch eine hohe Faktentreue, Glaubwürdigkeit, Genauigkeit und Kohärenz der dargestellten Informationen aus. Die Bürger- und Menschenrechtsbewegung in der UdSSR war zu einer professionellen Bewegung geworden.
Im Umfeld der *Moskauer Helsinki-Gruppe formierten sich weitere Vereinigungen mit spezifischen Zielstellungen, unter anderem das *Christliche Komitee zur Verteidigung der Rechte der Gläubigen in der UdSSR und die *Arbeitskommission zur Erforschung des Einsatzes der Psychiatrie zu politischen Zwecken. Es entstand auch eine erste unabhängige Organisation mit klarer sozialer Zielrichtung: die Initiativgruppe zur Verteidigung der Rechte Behinderter. Unabhängig von der *Moskauer Helsinki-Gruppe, aber sehr wohl unter dem Einfluss der Tendenz zur Spezialisierung und nicht zuletzt unter dem Eindruck der sich in Polen formierenden Arbeiterbewegung, gab es 1978 auch in der UdSSR den Versuch zur Gründung einer unabhängigen Gewerkschaftsbewegung.
Im engen Zusammenwirken mit der *Moskauer Helsinki-Gruppe funktionierten die bestehenden zivilgesellschaftlichen Strukturen weiter: der *Hilfsfonds für politische Häftlinge und ihre Familien, dessen Treuhänder Alexander Ginsburg (selbst Mitglied der *Moskauer Helsinki-Gruppe) wurde, die *„Chronik der laufenden Ereignisse“ sowie die 1973 gegründete *Sowjetische Sektion von Amnesty International.