Derartige Verhaltensweisen galten in früheren Zeiten noch als gefährliche „Spinnereien“ und führten in der Regel dazu, dass der oder die „Experimentierende“ schon sehr bald von der Bildfläche verschwand und in einer psychiatrischen Anstalt oder einem Arbeitslager landete. In den 60er Jahren hingegen begannen ganze Gruppen und gesellschaftliche Kreise damit, solchen „Spinnern“ zuzuhören und zu überlegen, wie diverse nonkonformistische Handlungsmodelle im Falle ernster gesellschaftlicher Verwerfungen zum Einsatz kommen könnten.
Wichtig zu nennen sind auch die Namen derer, die die Idee des Rechts als universelles Mittel der gesellschaftlichen Kommunikation vertraten, das es ihnen in der Konfrontation mit der staatlichen Druckausübung erlauben würde, ihre persönliche Unabhängigkeit zu wahren. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang unter anderem Anna Skripnikowa, Ernst Orlowski, Alexander Jessenin-Wolpin und später auch Waleri Tschalidse und Boris Zukerman.
Drittens waren bereits in den 50er Jahren Offenheit, Unabhängigkeit und der Anspruch, sich bei Bedarf auf die geltenden Rechtsvorschriften zu berufen, nicht nur charakteristisch für Einzelpersonen, sondern ebenso für einige recht breit angelegte nationale und religiöse Bewegungen. Da war die Bewegung der Krimtataren, die sich für die Rückgabe der historischen Heimat stark machte, es gab die Bewegung der Wolgadeutschen und die 1961 entstandene Bewegung der baptistischen Reformkräfte, der sogenannten „Initiativniks“, die sich von ihren „loyaleren“ Glaubensbrüdern nicht so sehr durch Glaubensgrundsätze, sondern viel eher durch die Bereitschaft unterschieden, sich gegen die staatliche Kontrolle des religiösen Lebens zur Wehr zu setzen. Später entstanden noch weitere Massenbewegungen dieser Art.
Wichtiges Bindeglied für jegliches nonkonformistisches Engagement intellektueller, zivilgesellschaftlicher, individueller oder kollektiver Prägung war ab der zweiten Hälften der 60er Jahre die Menschenrechtsbewegung.
Die meisten Beobachter stimmen darin überein, dass die sowjetische Menschenrechtsbewegung in den scharfen Auseinandersetzungen zwischen der Intelligenz und der Staatsmacht Mitte der 60er Jahre ihren Anfang nahm. Zum Konflikt war es gekommen, als der Staat versuchte, unabhängige literarische Tätigkeiten mit Strafverfolgungsmaßnahmen einzudämmen. Die Namen, die für die bekanntesten Beispiele dieses Krieges des Staates gegen die Literatur stehen, sind Joseph Brodsky und insbesondere Andrei Sinjawski und Juli Daniel. Die beiden Letztgenannten waren Moskauer Autoren, die ihre literarischen Werke heimlich im Ausland publizierten. Sie wurden verhaftet und wegen sogenannter „antisowjetischer Propaganda und Agitation“ zu langen Lagerstrafen verurteilt. Der Prozess gegen Andrei Sinjawski und Juli Daniel, auf dessen möglichst breite Medienberichterstattung die ZK-Führung aus „erzieherischen Gründen“ gedrängt hatte, führte zu einer Welle öffentlicher Proteste, sowohl von Einzelpersonen als auch von ganzen Gruppen. Diese Proteste erfolgten zumeist in Form von Petitionen an die sowjetische Partei- und Staatsführung. Im Unterschied zum Brodsky-Prozess, der zuvor bereits großes Aufsehen erregt hatte, beschränkten sich die Proteste also nicht nur auf Appelle von Privatpersonen an das ZK, sondern nahmen öffentlichen Charakter an. Der Wortlaut der Petitionen wanderte von Hand zu Hand – wie auch das letzte Wort der Angeklagten Andrei Sinjawski und Juli Daniel während ihres Prozesses. Erstmals seit Jahrzehnten hatten es die Angeklagten in einem politischen Prozess dieser Größenordnung abgelehnt, Reue zu zeigen und unbeugsam ihr Recht auf schöpferische Freiheit verteidigt.
Am 5. Dezember 1965, noch vor Prozessbeginn, fand auf dem Moskauer Puschkin-Platz eine Solidaritätskundgebung für Andrei Sinjawski und Juli Daniel statt, die von Alexander Jessenin-Wolpin und einigen seiner Freunde organisiert worden war. Daran nahmen Dutzende Studierende der Moskauer Universität und anderer Hochschulen der Hauptstadt teil. Die Demonstration wurde umgehend von Einsatzkräften der Miliz auseinandergetrieben. In die Geschichte der Dissidentenbewegung ging sie als Glasnost-Kundgebung ein, die eine Tradition begründete: Jahr für Jahr fand an diesem Tag aus Anlass des „Tages der Verfassung“ ein Schweigemarsch statt, bis 1977 der offizielle Verfassungstag nach der Verabschiedung einer neuen Verfassung auf einen anderen Tag verlegt wurde. Der Termin der Demonstration war fortan der 10. Dezember – der 1948 von der UNO ausgerufene Internationale Tag der Menschenrechte.
Die Glasnost-Kundgebung war nicht, wie von einigen Forschern behauptet, die erste illegale Manifestation in der UdSSR nach 1927. Bekannt ist zum Beispiel eine Demonstration von Studierenden der Universität Moskau im Frühjahr 1954, die von Kronid Lubarski organisiert worden war. Anlass der Kundgebung war bezeichnenderweise der damals kontrovers diskutierte Aufsatz des Kritikers Wladimir Pomeranzew „Über die Aufrichtigkeit in der Literatur“ (Ob iskrennosti v literature). 1956 fand auf dem Leningrader Platz der Kunst eine spontane Kundgebung von jungen Menschen statt, die sich gegen die Schließung einer Picasso-Ausstellung richtete. Die Unruhen in Tiflis vom März 1956 nahmen ebenfalls ihren Anfang in Studentenkundgebungen und -demonstrationen. In Moskau sind neben den erwähnten Dichterlesungen auf dem Majakowski-Platz auch öffentliche Kundgebungen zu nennen, die von der Dichtergruppe SMOG organisiert wurden; das größte Echo erzielte die Demonstration am 14. April 1965. Am 24. April 1965, dem 50. Jahrestag des Völkermords an den Armeniern im Jahre 1915, organisierten der Bund der armenischen Jugend und der Bund der armenischen Patrioten in Jerewan eine illegale Demonstration mit Tausenden Teilnehmern. In vielen ukrainischen Städten kam es ab 1961, dem 100. Jahrestag der Überführung der sterblichen Überreste des Dichters Taras Schewtschenko, immer wieder zu Kundgebungen an Schewtschenko-Denkmälern, die wegen ihrer „nationalen Färbung“ von der Staatsmacht weder genehmigt noch gutgeheißen wurden. Von 1964–66 hatten die Kundgebungen noch offiziellen Charakter gehabt, bis 1972 sahen die Behörden von Repressionen gegen die Teilnehmer ab.
Die Glasnost-Kundgebung vom 5. Dezember 1965 hatte jedoch im In- und Ausland ein viel größeres Echo als frühere öffentliche Protestaktionen. Zudem fand die Kundgebung auf Betreiben von Alexander Jessenin-Wolpin unter dem Motto der Verteidigung der Menschenrechte statt. Viele Autoren betrachten aus diesem Grund den 5. Dezember 1965 als Geburtsstunde der Menschenrechtsbewegung in der UdSSR.
Die weitere Entwicklung bis zum Ende des Jahrzehnts lässt sich als Kettenreaktion beschreiben: Auf Repressionen gegen die aktivsten Protestierenden folgten Proteste gegen diese Repressionen, die weitere Repressionen und neue Proteste zur Folge hatten. Am Ende dieser Entwicklung war die Existenz politischer Unterdrückungsmaßnahmen fester Bestandteil des gesellschaftlichen Bewusstseins geworden.