Kennzeichnend und prägend für die Dissidentenarbeit der zweiten Hälfte der 70er Jahre waren der spürbar gereifte Samisdat-Journalismus und die Entwicklung unabhängiger Forschungsinitiativen. Zur ersten Kategorie gehörte zum Beispiel die als Maschinenmanuskript herausgegebene sozialpolitische Zeitschrift „Poiski“ (Suche), zur zweiten das Periodikum „Pamjat‘“ (Gedächtnis), in dem totgeschwiegene Probleme der sowjetischen Geschichte aufgegriffen wurden, insbesondere aus der Geschichte des staatlichen Terrors.
In jenen Jahren wurde Leningrad zur Hauptstadt der „zweiten Kultur“, zu einem Ort, an dem sich unabhängige literarische, künstlerische, kulturelle und religiöse Initiativen herausbildeten und wo eine große Anzahl von Samisdat-Schriften zu den verschiedensten Themen erschien.
Das Dissidentenmilieu nahm trotz systematischer Repressionen allmählich an Stärke zu und wurde zu einer unabhängigen, selbständigen Größe. Kurz vor dem Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan im Dezember 1979 sowie kurz danach verschärfte der KGB unter Juri Andropow noch einmal die Repressionen gegen die Dissidenten. Im November 1979 begannen systematische Festnahmen von prominenten Menschenrechtsaktivisten, die in der Bewegung zentrale Positionen einnahmen. Die Verhaftungen führten dazu, dass die „Chronik der laufenden Ereignisse“ ab 1983 nicht mehr erschien. Im Dezember 1979 wurde der Chefredakteur der Zeitschrift „Poiski“, Waleri Abramkin, verhaftet. Dies war der Auftakt einer ganzen Reihe von repressiven Maßnahmen, die in den Jahren 1979–82 gegen Redakteure und Autoren dieser Zeitschrift ergriffen wurden, so dass auch sie ihr Erscheinen einstellen musste.
Im Januar 1980 wurde Andrei Sacharow, nachdem er gegen den sowjetischen Einmarsch in Afghanistan protestiert hatte, ohne Gerichtsbeschluss aus Moskau verbannt. Grundlage war ein Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR. Andrei Sacharow wurde in völliger Isolation in der Stadt Gorki festgehalten, die er nicht verlassen durfte. (Juri Andropow hatte die Verbannung Andrei Sacharows schon in einem Vermerk an das ZK der KPdSU im Januar 1977 vorgeschlagen. Sein Plan wurde jedoch aus nicht näher bekannten Gründen nicht umgesetzt.) 1982 musste die Moskauer Helsinki-Gruppe, die damals nur noch aus drei Personen bestand, da alle anderen Mitglieder im Gefängnis saßen oder in der Verbannung waren, ihre Selbstauflösung bekannt geben.
Die verstärkten repressiven Maßnahmen werden für gewöhnlich auch als Grund für die in der ersten Hälfte der 80er Jahre verringerte Aktivität der Dissidenten angesehen. Die Repressionen waren jedoch, zumindest quantitativ, im Vergleich zur Situation Anfang der 70er Jahre nicht massiver. Natürlich hatte der KGB inzwischen gelernt, wie er möglichst effizient gegen Schlüsselfiguren in der Dissidentenbewegung vorgehen und diese ausmanövrieren konnte. War es jedoch zuvor so gewesen, dass an die Stelle jener, die ausfielen, sofort neue Aktivisten nachrückten, war Anfang der 80er Jahre zu beobachten, dass sich Menschen zurückzogen, die eng mit der Dissidentenbewegung liiert gewesen waren.
Dieses Phänomen lässt sich nicht schlüssig erklären. Bis zu einem gewissen Grade lag es sicherlich an den strengeren Urteilen, die von den Gerichten gefällt wurden, am System der erneuten Verhaftung nach verbüßter Strafe, das insbesondere nach der Machtübernahme durch Andropow praktiziert wurde, sowie an den verschärften Haftbedingungen in den Strafarbeitslagern. Mit dem Ende der Entspannungspolitik sank auch das ausländische Interesse an den sowjetischen Dissidenten. Die Repressionen gegen Andersdenkende wurden nicht mehr als Ausdruck des Bösen gesehen, das die internationale Öffentlichkeit interessierte und eingedämmt werden musste; die Maßnahmen schienen eher ein natürliches Element der Politik eines Regimes zu sein, das auch Passagierflugzeuge abschoss oder fremde Länder mit barbarischen Kriegen überzog. All das verstärkte bei den Dissidenten, die noch in Freiheit und nicht ins Exil gegangen waren, das Gefühl der Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit.
Dennoch kann man annehmen, dass der Hauptgrund hierfür nicht in den oben dargestellten repressiven Faktoren lag, sondern im wesentlich geringeren Rückhalt, den die Dissidenten in der sowjetischen Gesellschaft fanden (wobei gleichzeitig die Sympathie für die Aktivisten und deren Ideale weiterbestand). Dieses Phänomen wiederum lässt sich durch eine Reihe von Rahmenbedingungen erklären, von denen die wichtigsten im Folgenden beschrieben werden sollen.
Inhaltlich konzentrierte sich die Dissidentenbewegung der 70er Jahre fast vollständig auf juristische Forderungen. Es ging in erster Linie um die Menschenrechte und um die Aufklärung der Gesellschaft über die Regierungspolitik, die auf die Unterdrückung von bürgerlichen und politischen Rechten gerichtet war. Die jahrelange Verkündung dieser Wahrheiten durch die Dissidenten im Samisdat und über ausländische Rundfunksender hatte Anfang der 80er Jahre den Effekt, dass sie ins Bewusstsein des aktiven und denkenden Teils der sowjetischen Gesellschaft gelangt waren. Die Perestroika in der zweiten Hälfte der 80er Jahre ist der beste Beleg dafür. Zu dieser Zeit gehörte die Dissidentenbewegung als Bürgerrechtsbewegung sozusagen einer vergangenen Epoche an und hätte von der Bühne abtreten müssen, denn sie hatte ihre historische Aufgabe erfüllt und wurde nicht mehr gebraucht. Natürlich kann es auch andere Erklärungen geben. Zumindest ist es aber ganz sicher kein Zufall, dass es einen nahtlosen Übergang von der Epoche der Dissidentenbewegung zur Perestroika gab.
Wie kann die Rolle der Dissidentenbewegung im gesellschaftlichen Leben Russlands insgesamt eingeschätzt werden, angefangen von den 60er bis hinein in die 80er Jahre? Schon ab 1962/63 wurde in den Beschlüssen des ZK der KPdSU, in den Parteitags- und Plenumsansprachen der Parteiführung und auch in Broschüren und Pressebeiträgen zum ideologischen Kampf der Begriff „ideologische Diversion“ verwendet. Der Sinn der Einführung dieses Begriffes in die Sprache der Politik liegt auf der Hand. Den Bekundungen der Staats- und Parteiführung zufolge war der Aufbau des Sozialismus in der UdSSR erfolgreich zum Abschluss gebracht worden, jetzt gingen die sowjetischen Bürger unter Führung der Partei an den Aufbau des Kommunismus. Der Sieg im „Klassenkampf“ sei – so die offizielle Lehre der Partei – im Inneren des Landes bereits in den 20er/30er Jahren errungen worden. Somit habe es in der UdSSR keine gesellschaftliche Basis für Unzufriedenheit mit der sowjetischen Gesellschaftsordnung geben können. Daraus folgt, dass die Inspiration für nichtsowjetisches Denken, für Unzufriedenheit mit der Politik der Partei und für „feindliche Eskapaden“ nur von außen habe kommen können. Die Dissidenten hätten sich folglich unter dem Einfluss einer Umsturzpropaganda befunden, wie sie von antisowjetischen Zentren im Ausland auf Geheiß des Weltimperialismus verbreitet werde.
In diese ideologische Konzeption fügten sich psychiatrische Repressionen nahtlos ein: Die Herrschenden argumentierten, es habe keine objektiven Gründe für die Entstehung antisowjetischen Widerstandes gegeben, und die für die ideologische Kriegführung gegen die UdSSR zuständigen ausländischen Diversionszentren seien deshalb darauf angewiesen gewesen, sich in ihrer Tätigkeit auf psychisch kranke Menschen zu stützen.