Diese Rahmenbedingungen ermöglichten in Polen Aktivitäten, die über die in anderen kommunistischen Ländern gegebenen Möglichkeiten hinausgingen. Die katholische Kirche akzeptierte den begrenzten Spielraum für den politischen Wandel 1956. So setzte sich Kardinal Wyszyński nicht aktiv für die Wiederbelebung katholischer politischer Bewegungen ein und unterstützte bei den Wahlen 1957 sogar den Ersten Sekretär des Zentralkomitees, Władysław Gomułka. Er versuchte rein politische Auseinandersetzungen mit der Staatsmacht zu vermeiden, konzentrierte sich – im Rahmen der neun Jahre währenden Vorbereitungen auf die 1.000-Jahr-Feierlichkeiten der „Taufe Polens“ – vielmehr auf den großen Bereich der Erziehung, der dazu beitragen sollte, die nationale und religiöse Identität der Polen zu stärken und sie widerstandsfähig zu machen gegen Säkularisierungstendenzen und den „von oben“ geförderten Atheismus. Die 1958–67 sehr intensiven Konflikte mit den Machthabern betrafen eben diese Sphäre und stellen ein gesondertes Kapitel der Nachkriegsgeschichte Polens dar. Erwähnt sei hier nur, dass sie die ideelle Grundlage für einen wichtigen Teil der polnischen Opposition bildeten, für den die Herausstellung des Nationalen und Katholischen wesentlich war. Die Zeit zur Formulierung klarer politischer Zielstellungen kam für diese Kreise erst Ende der 70er Jahre – und in noch breiterer Form im darauffolgenden Jahrzehnt.
Im Unterschied zur antikommunistischen Opposition der 40er Jahre, die grundlegende Veränderungen der gesellschaftlichen Ordnung verlangte, betrachteten die Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre kritisch gegen das Regime eingestellten Intellektuellen die Volksrepublik Polen als immerhin polnischen Staat, dessen politische Ordnung schrittweise reformiert werden müsse. Die kommunistischen Machthaber waren für sie eine hausgemachte – wenn auch mit Moskau verwobene – Diktatur, mit der man sich auseinandersetzen, aber auch Kompromisse schließen konnte. Ihre Ziele waren die allmähliche Vergrößerung des Spielraums der Freiheit, die Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit sowie eine fortschreitende Demokratisierung.
Dafür kämpfen konnte man sowohl außerhalb als auch innerhalb der Partei und anderer offizieller Organisationen, kritische Äußerungen konnte man auch in „zensurgerechter“ Form in offiziellen Zeitschriften publizieren. Da das System keine Opposition zuließ, bezeichneten sich die an öffentlichen Debatten Beteiligten nur ungern als Oppositionelle. In der Regel hoben sie die Notwendigkeit hervor, den Sozialismus menschlicher zu gestalten und ihm so eine breitere gesellschaftliche Unterstützung zu verschaffen. Erst die Reaktionen des Staatsapparates auf Äußerungen von Anhängern einer zweiten Entstalinisierung führten zur Definition dieser Kreise als „Opposition“.
Von ganz wesentlicher Bedeutung für die aus dem Oktober 1956 hervorgegangene Opposition war der informelle Informationsfluss, durch den Informationen, Meinungen und Gerüchte ihren Weg aus den Wissenschafts- und Literaturkreisen hinaus in eine breitere Öffentlichkeit finden konnten. So konnte man die Zensur umgehen, für die Machthaber unbequeme Tatsachen ans Tageslicht befördern, andere als die offiziellen Einschätzungen formulieren und bestimmte kulturelle und politische Phänomene unterstützen. Ein für die damalige Zeit radikales Mittel waren Petitionen, die in konkreten Angelegenheiten von ganzen Personengruppen an die Regierenden gesandt wurden. Die erste von ihnen, der sogenannte Brief der 34, wurde 1964 von bekannten Intellektuellen verfasst, die darin gegen reduzierte Papierzuteilungen für Bücher und das schärfere Vorgehen der Zensur protestierten. Der Brief löste ein wahres Erdbeben im Staatsapparat aus, an der sich anschließenden polemischen Auseinandersetzung beteiligten sich auch hohe Parteivertreter. Die Repressionen, wie sie gegen die Unterzeichner des Briefes zur Anwendung kamen, waren als Signal zu verstehen, womit man zu rechnen hatte, wenn man seine Unterschrift unter Petitionen dieser Art setzte.
Ein wichtiger Bezugspunkt für polnische Oppositionskreise war die in Paris erscheinende Monatsschrift „Kultura“. Sie war für den Vertrieb in Polen genauso wenig zugelassen wie andere vom Pariser „Literarischen Institut“ herausgegebene Bücher, kursierte jedoch ständig im Untergrund. Den Mut, Beiträge für „Kultura“ zu verfassen, hatten jedoch nur wenige, die dann auch fast ausschließlich unter Pseudonym veröffentlichten. Kontakte oder gar die Zusammenarbeit mit dieser Zeitschrift hatten ernste Konsequenzen. Beispiele sind der Prozess gegen Hanna Rewska 1958, der Prozess gegen Hanna Rudzińska 1961, die Ermittlungen gegen Stanisław Cat-Mackiewicz 1965 und der sogenannte „Alpinisten-Prozess“ 1970 gegen eine Gruppe von jungen Leuten, die die „Kultura“ über die Tatra ins Land geschmuggelt hatten.
Das nichtkommunistische Medium mit der größten Breitenwirkung in der polnischen Gesellschaft war Radio Freies Europa, das ein Drittel der erwachsenen Polen hörte. Der Radiosender war Zielscheibe wütender Propaganda, für die direkte Kontaktaufnahme mit dem Sender konnte man mit Gefängnis bestraft werden (Beispiele: Prozess gegen den Schriftsteller Melchior Wańkowicz 1965, Ermittlungen gegen den Historiker Władysław Bartoszewski 1970). Die Menge und die Präzision der Berichterstattung über Ereignisse in Polen waren jedoch ein Hinweis darauf, wie viele Informationsquellen Radio Freies Europa im Land hatte und wie gut dessen Kenntnisstand war. So brachte der Sender regelmäßig Nachrichten über alle wichtigen Aktionen und Verlautbarungen der Opposition.
Was die ideelle Ausrichtung der polnischen Opposition anbelangt, lassen sich drei Strömungen unterscheiden: Die erste sind die sogenannten Revisionisten, die unter Anwendung marxistischer Kriterien die herrschende Ideologie und das bestehende System kritisierten. Sie konfrontierten die ideellen Verheißungen des Kommunismus mit der Realität, setzten sich für Meinungsfreiheit (besonders für Anhänger des Sozialismus – wodurch sie die Grundfesten des Zentralismus erschütterten) sowie für politische und wirtschaftliche Reformen ein. Ebenso versuchten sie, einen Dialog mit linksgerichteten Kräften im Westen zu führen. Der Revisionismus als intellektuelle Strömung fand seinen Niederschlag in den Geistes- und Sozialwissenschaften (insbesondere bei Leszek Kołakowski) sowie in der Literatur, vor allem in Werken, die mit dem Stalinismus abrechneten.
Der Revisionismus hatte auch radikale Vertreter, die das politische System unmittelbar angriffen (Jacek Kuroń und Karol Modzelewski – verurteilt 1965). Es ist charakteristisch, dass die revisionistischen Vertreter sich im Zuge der Weiterentwicklung ihrer Ansichten von der Partei abkehrten oder aus ihr ausgeschlossen wurden. Durch das Verwerfen einer Reihe von traditionell marxistischen Elementen näherten sie sich der liberalen Konzeption an. Der symbolische Schlusspunkt dieses Prozesses war das 1976 im Exil erschienene Hauptwerk von Leszek Kołakowski „Die Hauptströmungen des Marxismus“ (Główne nurty marksizmu; auf Deutsch 1977/79 erschienen).